Tödlicher Applaus
Koma gefallen war, ins Stocken geraten. Ein einzelnes dünnes Fältchen an jeder Seite ihrer Oberlippe war das einzige sichtbare Zeichen der verstrichenen Jahre. Diese Linien zeugen von dem Kummer, den Victor Kamarov dir zugefügt hat, dachte er.
»Wir begeben uns auf eine Reise, Anna. Nach Wien. Deine Tochter steht vor ihrem Durchbruch. Und das hat sie ganz aus eigener Kraft geschafft, ohne fremde Hilfe, nicht einmal Victor hat seine Hände im Spiel gehabt.«
Steen musterte Annas Gesichtsausdruck. War da die Andeutung einer Reaktion? Hatte der eine Mundwinkel nicht leicht gezuckt, als wollte sie lächeln? Hatte sie ihn verstanden?
Zweifel
»Ich bin mir nicht sicher.« Rudi strich sich mit einer Hand durchs Haar und begann, die diversen Teile auf dem Tisch hin und her zu schieben. Er hatte den Timer, den er am nächsten Tag verwenden wollte, bis zum kleinsten Detail auseinandergebaut und noch einmal gründlich durchgecheckt. Jetzt musste er wieder zusammengesetzt werden, aber irgendetwas hielt ihn zurück.
»Wie, nicht sicher?« Hans sah gerade die neu angeschafften falschen Pässe und Kreditkarten durch, die sie benutzen würden, sobald sie Österreich verlassen hatten. Es war spät in der Nacht, und eigentlich sollten sie längst schlafen, um ausgeruht zu sein für den entscheidenden Schlag bei der morgigen Premiere. Aber es gab noch jede Menge zu tun.
»Bis jetzt hatte ich nie Zweifel, aber die Frage ist doch …« Rudis Mut schwand, als er den bohrenden Blick seines Bruders spürte, der ihn schneller las als die Schlagzeilen einer Zeitung. Das war eben Segen und Fluch, wenn man einen Zwillingsbruder hatte.
»Wenn wir morgen in Aktion treten wollen, können wir uns keine Bedenken leisten. Du musst an unsere Sache glauben, Rudi. Ja, nicht nur daran glauben, sondern sicher wissen, dass wir das Richtige tun.« Hans’ Stimme war leise und sanft. Wäre Rudi nicht so sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt gewesen, hätte er die Warnsignale wahrscheinlich wahrgenommen.
»Wie lange wollen wir denn noch weitermachen? Wann ist Mama gerächt? Medina ist tot, Kamarov liegt am Boden, und Arpata ist für den Rest seines Lebens weich gekochtes Gemüse.«
Hans hatte geahnt, dass es irgendwann so weit kommen würde. Und er hatte seine Vermutungen, was der Grund war. »Wenn wir jetzt aufhören, kommt der größte Verbrecher von allen davon. Rudi, wir sind es unserer Mutter schuldig, den Weg bis zu Ende zu gehen. Menschen wie Victor Kamarov sind Unkraut, das mit den Wurzeln ausgerissen werden muss. Tun wir das nicht, wird er eine Möglichkeit finden, wieder auf die Beine zu kommen, und alles, was wir getan haben, war umsonst.«
»Ich habe Angst, dass wir einen Fehler machen, Hans. Bis jetzt ist alles glattgelaufen, schon fast beunruhigend glatt. Tom Hartmann war ein Geschenk des Himmels, mit dem man kein zweites Mal rechnen kann. Wenn wir jetzt aufhören, können wir in Wien bleiben und ein normales Leben führen.«
»Und was ist mit den beiden im Keller?«
»Wir lassen sie frei und geben der Polizei einen anonymen Hinweis. Niemand wird Hartmanns Erklärungen glauben, und Beweise hat er nicht. Wer weiß, vielleicht sind sie ja einfach nur froh, mit dem Leben davongekommen zu sein …«
»Das ist doch Unsinn! Sag ehrlich, haben deine Bedenken vielleicht etwas mit Maria zu tun?« Hans wusste, dass er ins Schwarze getroffen hatte, als er sah, dass Rudis Blick hektisch zwischen den Timerteilchen auf dem Tisch hin und her sprang.
»Nein, mit Maria hat das alles nichts zu tun.«
»Maria ist ein hübsches Mädchen. Ich kann gut verstehen, dass du in sie verliebt bist.«
»Ich bin nicht …«
Hans stand auf, um die Pässe zu den übrigen Reisedokumenten zu legen. Es war ihm schon immer leichter gefallen als seinem Bruder, sich von seinen Gefühlen abzukoppeln. Hans besaß einen effektiven »An-Aus-Schalter«, und war der erst einmal ausgeschaltet, ließ er sich von nichts und niemandem von seinem Ziel abbringen. Für einen Moment erwog er sogar, die letzte Etappe alleine durchzuziehen.
Er drehte sich um und zeigte sein überzeugendstes Lächeln. »Es ist mein größter Wunsch, dass mein Bruder mit seiner Maria glücklich wird.«
»Heißt das, du stimmst zu, dass wir das Ganze an dieser Stelle beenden?«
»Sollte die Operation schiefgehen, verspreche ich dir, alle Schuld auf mich zu nehmen, Rudi. Ich werde bezeugen, dass du unschuldig bist. Du wirst deine Maria kriegen. Ich habe mich darauf eingestellt, den
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