Tödlicher Applaus
drücken. Sollte es nötig sein, wäre er also sehr schnell.
»Mein Name ist Tom Hartmann.«
Noch zwei Minuten. Eins neunundfünfzig, achtundfünfzig …
Tom folgte den Zeilen der Partitur und wusste, dass sich der Augenblick der Wahrheit näherte. Eines seiner Beine zitterte unkontrolliert. Mit all seiner Willenskraft versuchte er, ruhig zu bleiben, aber sein Körper verweigerte ihm den Gehorsam. Auf makabere Weise war es wie eine Wiederholung des Abends, an dem Medina ermordet worden war. Damals wie heute saß Tom mit Partitur und Notizblock im Saal.
Er tat so, als machte er sich für seine Kritik Notizen. In wenigen Sekunden würden die Türen des Zuschauersaals aufspringen und vierzig Chorsänger in Tarnjacken und mit schwarzen Sturmhauben in den Saal stürmen. Sie würden mit ihren Gewehren auf das Publikum zielen, die Musik würde sich in schneidende Dissonanzen verwandeln, und dichter Qualm würde aus den Rauchmaschinen quellen.
In dem Augenblick würde der härteste Kampf seines Lebens beginnen. Das Handy rutschte ihm fast aus der verschwitzten Hand. Er steckte es in die Brusttasche und rieb die Handflächen an seinem zuckenden Schenkel ab, da er befürchtete, die Feuchtigkeit seiner Hände könnte eine Explosion auslösen.
Die Türen flogen auf, und die Terroristen nahmen den Saal ein. Die Zuschauer zuckten zusammen, einige schrien vor Begeisterung, andere vor Furcht. Tom stand auf und ließ sich willenlos mit dem Strom der lärmenden Chorsänger mittreiben, die sich auf die Bühne zubewegten. Die Maschinengewehreffekte dröhnten aus den Lautsprechern, und der Saal wurde in ein unheimliches grünes Licht getaucht, so als blicke man durch die Nachtsichtgeräte der Soldaten. Grelle Spots schweiften über Zuschauerraum und Bühne. Die premiereeifrigen Chorsänger stießen Tom regelrecht in Richtung Bühne. Sie waren so damit beschäftigt, alles richtig zu machen, dass sie gar nicht bemerkten, dass sich ein Mann im Anzug unter ihnen befand.
»Für Allah, für Tschetschenien!«, brüllten die Chorsänger und reckten ihre Maschinengewehre in die Luft.
Tom kletterte auf die Bühne, sein Anzug vom Schweiß zerknittert. Sein Magen rebellierte und gab ein Gurgeln von sich. Er konnte kaum etwas erkennen außer der Gestalt von Maria Kamarov, die als Einzige von einem weißen Spot beleuchtet wurde und sich so von der grellgrünen Szenerie abhob. Er hatte das Gefühl, neben sich zu stehen und Tom Hartmann zum befohlenen Ziel zu geleiten. Als er seinen Arm um Maria Kamarovs schlanken Hals legte, schien er den letzten Kontakt zur Wirklichkeit zu verlieren.
Er spürte, wie sie erstarrte, erst verblüfft, dann ängstlich. Anfangs versuchte sie noch, ihn mit energischer Höflichkeit abzuschütteln, als hielte sie das alles für einen peinlichen Scherz. Dann wurde sie von Panik ergriffen und begann zu zucken, zu strampeln und zu schreien. Tom verstärkte seinen Griff. Er durfte jetzt nicht loslassen, alles hing davon ab, dass er seinen Auftrag ausführte. Ich tue das für meine Tochter, ich tue das für meine Tochter! Er klammerte sich an diesen einen Gedanken, der ihm die Kraft gab, Maria Kamarov festzuhalten. Sie war überraschend stark.
Das Publikum war vor Begeisterung wie verhext – so überzeugende Schauspielkunst wurde in der Wiener Staatsoper selten geboten. Und Maria Kamarov! Im einen Augenblick sang sie schöner als jemals jemand vor ihr, und jetzt schrie sie wie ein verletztes Tier. Welche Stimmbandbeherrschung!
Tom spürte, dass er wütend auf Maria wurde. Die Extremsituation vereinfachte die Tatsachen. Es ging nur noch ums Überleben, und alle, die dieses Ziel in Frage stellten, wurden automatisch zu Feinden. Maria Kamarov war plötzlich eine Bedrohung für Tom. Sie konnte alles kaputt machen.
»Halten Sie den Mund, oder ich sprenge Sie in die Luft«, hörte er sich selbst sagen. Ihm schauderte. »In Ihrer schusssicheren Weste befindet sich eine Sprengladung, die ich mit meinem Handy auslösen kann.«
Maria gab ein ersticktes Hicksen von sich und stand dann ganz still. Sie rang nach Luft und versuchte, ihren Atem wieder unter Kontrolle zu bringen. Die Musik verstummte. Der Dirigent hatte den Taktstock niedergelegt und starrte mit halb geöffnetem Mund ungläubig auf die Bühne. Seine wilden, graumelierten Haare standen wie ein Glorienschein aus Spinnweben um seinen Kopf. Im Saal war es totenstill. Der Chor auf der Bühne war ängstlich zurückgewichen und bildete einen Halbkreis um Tom Hartmann
Weitere Kostenlose Bücher