Tödlicher Applaus
Boden lag. Victor erkannte die Lackstiefel wieder. Es war die Frau, die neben der Eingangstür gestanden hatte, als sie in die Koppstraße gekommen waren.
»He, hör auf!«, rief Victor.
»Halt’s Maul, du Memme«, antwortete der Mann.
»Stan, nicht schlagen, ich kann nichts dafür!«
»Du faule, undankbare Fotze«, konnte Stan noch sagen, dann schlug Victors Faust in seiner Nase ein. Beide heulten vor Schmerzen auf. Stan, weil seine Nase zertrümmert war, und Victor, weil er sich die Hand gebrochen hatte. Es war mehr Wut als Heldenmut, der Victor antrieb, immer weiter auf den Mann einzuschlagen, bis dessen Gesicht nur noch eine blutige, breiige Masse mit zwei verquollenen Augen war.
Fauchend kroch Stan aus dem Haus. »Du bist tot, tot, sage ich.« Seine Stimme klang nach Schleim, Blut und ausgeschlagenen Zähnen, aber die Botschaft war unmissverständlich.
Victor musste sich an die Wand lehnen, um nicht ohnmächtig zu werden, und erst einmal Kraft sammeln, um zurück in seine Wohnung zu gehen. Das Mädchen folgte ihm.
»Der meint das ernst«, sagte sie.
Victor antwortete nicht, öffnete die Tür der Dusche und verschwand dahinter. Mühsam und mit nur einer Hand streifte er sich in der engen Kabine das zerrissene Hemd und die Hose ab. Er drehte das Wasser auf, suchte unter dem warmen Strahl Zuflucht und versuchte, seine rechte Hand zu bewegen. Es knackte, wenn er die Finger zu strecken versuchte, und jagte ihm einen Schmerz in den Unterarm, als stieße jemand lange Nadeln in seine Nervenbahnen. Er beugte die Finger und streckte sie. Beugte und streckte sie und konzentrierte sich auf den Schmerz, statt ihn zu bekämpfen. Er schwitzte mit dem Dampf des heißen Wassers um die Wette, ließ sich weiter auf den Schmerz ein und versuchte, ihn unter Kontrolle zu bekommen. Er musste herausfinden, wo die Quelle des Schmerzes lag, und sich darauf konzentrieren. Er musste seine Hand bewegen, die Verletzung musste ganz einfach bis nach dem Wettbewerb warten. Davon hing alles ab.
Er verfluchte sich selbst für seine Gedankenlosigkeit, einfach auf den Mann loszugehen. Warum hatte er sich einmischen müssen? Wegen einer Hure! Wieder übermannte ihn dieses Gefühl der Ohnmacht, hatte er den Eindruck, sein ganzes Dasein würde nur vom Chaos regiert und er wäre nichts anderes als ein willenloses Spielzeug des Schicksals.
Als er aus der Dusche kam, stellte er fest, dass das Mädchen noch immer da war. Er verhüllte seinen Körper irritiert mit seinen schmutzigen Kleidern. »Du bist noch hier?«
»Ich weiß nicht, wo ich hingehen soll.« Sie starrte zu Boden. Die schwarzen Lackstiefel sahen unbequem aus, fehl am Platz, und sie verschränkte die Arme vor der Brust, als wollte sie dadurch angezogener aussehen. »Ich heiße Gina. Gina Vasilov.«
»Kannst du mir den Koffer bringen, Gina?«
Sie zog den abgenutzten Stoffkoffer zu ihm. »Soll ich ihn dir aufmachen?«
Victor nickte. Im Koffer lag schmutzige Unterwäsche neben einem Stapel Noten und einem blaukarierten Anzug aus den Siebzigern, unter dem ein hoffnungslos dünner Schlips und ein bügelfreies weißes Nylonhemd zum Vorschein kamen. Er nahm das Hemd.
»Victor, Victor Kamarov, merk dir den Namen«, sagte er, aber das Lachen wollte sich nicht einstellen. Er manövrierte sich mit einem Arm in das Hemd und verhüllte sich mit dem anderen.
»Ich weiß, wie das aussieht«, sagte sie. »Lass mich dir helfen.« Gina zog ihm Hemd und Hose an. »Den Schlips auch?«, fragte sie.
Victor versuchte zu lächeln. »Der kann warten, bis es hell wird«, sagte er. »Kannst du einen Kaffee kochen? Da drüben im Schrank steht welcher.«
Victor wollte um keinen Preis mehr schlafen. Sonst würde seine Hand nur anschwellen und steif werden. Er musste sie in Bewegung halten. Nach dem Wettbewerb konnte er noch genug schlafen. Er musste ganz einfach gewinnen, sonst konnte er gleich wieder zurück nach Moskau fahren.
Sie löffelte Pulverkaffee in zwei Tassen. Dann holte sie Eiswürfel aus dem Kühlschrank, legte sie in ein nasses Handtuch und wickelte ihm die kalte Bandage um die verletzte Hand.
»Danke«, sagte er. Der Umschlag linderte seine Schmerzen.
Während sie die wie Schlamm aussehende Flüssigkeit tranken, kamen sie sich vorsichtig näher. Sie erzählten sich Bruchstücke ihres Lebens, das sie hierher in die Koppstraße geführt hatte.
Victor sprach von dem Wettbewerb, Gina von ihrer Jugend in Montenegro in der kleinen Stadt Bilejo Polje, von den Bergen, dem Fluss Lim und davon,
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