Tödlicher Applaus
Tom wurde von einer merkwürdigen Ehrfurcht ergriffen. Die Dimensionen des gotischen Meisterwerkes veranschaulichten wahrhaftig Gottes Größe und die Nichtigkeit des Menschen. Und hatte sich nicht auch Medinas Leben in prachtvollen Bögen emporgeschwungen, bis es durch einen sinnlosen Anschlag der Nichtigkeit preisgegeben wurde?
Tom wurde jäh aus seinen Grübeleien gerissen, als die Prozession von Medinas Witwen sich in Gang setzte. Eine lange Reihe schwarz gekleideter Frauen mit schwarzen Chiffonschleiern paradierte an ihm vorbei, und jede von ihnen legte eine Rose auf Medinas Sarg, der allmählich unter einem immer höher werdenden Berg aus Rosen verschwand.
Zuerst nahm Tom nur den Duft wahr: Aqua di Parma, Iris Nobile. Er kannte nicht viele Frauen, die diesen Duft trugen. Aber sie hatte ihn getragen, die Frau, der er das Leben gerettet hatte, die ihn im Krankenhaus besuchte, um sich zu bedanken, und die ihm gerade ihren Namen sagen wollte, als Cathrine dazwischenkam. Konzentriert musterte er jede einzelne »Witwe«, die auf dem Rückweg durch den Mittelgang an ihm vorbei schritt. Da, das war sie! Er versuchte der Frau ein Zeichen zu geben. Doch sie war zu weit weg und vom Ernst des Augenblicks gefangen.
Tom stemmte sich von seinem Platz hoch und mischte sich unter die Prozession. Einige Frauen drehten sich um und sahen ihn vorwurfsvoll an. Er beschloss, sich nicht darum zu scheren. Draußen zerfloss die Prozession zu einem Meer aus schwarz verschleierten Frauen. Seine Augen suchten angestrengt nach der einen, doch es war hoffnungslos. Wie soll man einen einzelnen Tropfen in einem Wolkenbruch ausmachen, eine einzelne Schneeflocke in einer Lawine?
»Hei, hallo, warten Sie! Hei!« Er hoffte, sie würde auf seine norwegischen Rufe reagieren, und bahnte sich einen Weg durch die trauernde Menge zu der Frau, die er für die richtige hielt.
»Hei, hallo, warten Sie!«
Die Frau lüftete den Schleier. »Wie bitte?«
Fehlanzeige. Er sah sich hektisch um und gestikulierte wild, bis sich eine kräftige Hand auf seine Schulter legte.
»Moment mal! Was machen Sie denn da?« Ein durchtrainierter österreichischer Polizist baute sich vor ihm auf.
»Ich suche eine Frau!«
»Ihren Ausweis, bitte!«
Mit einem Seufzer steckte Tom die Hand rasch in die Innentasche seiner Jacke. Er wollte weiter.
»Stopp!«, schrie der Polizist, die rechte Hand bereits an seiner Dienstwaffe. Tom öffnete die Jacke und ließ den Polizisten selbst die Brieftasche herausnehmen, während er sich umschaute, in der Hoffnung, sie doch noch irgendwo zu entdecken.
Während der Polizist in aller Seelenruhe die Kreditkarten und den Führerschein sowie alle Quittungen und Geldscheine kontrollierte, die sich in Toms Brieftasche befanden, sah Tom einen Mann aus der Menge scheren. Einen Mann mit blonden, zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen Haaren und einer Sonnenbrille. Rudi Maier. Er ging zielstrebig auf eine der Frauen zu und streifte sie diskret. Die Frau wandte sich zu ihm um und folgte ihm.
»Tom Hartmann aus Norwegen?« Der Polizist musterte Tom von Kopf bis Fuß, ehe er ihm die Brieftasche wieder aushändigte.
Tom verneigte sich und nahm eilig Rudi Maiers Verfolgung auf. Zu spät. Die Frau stieg gerade auf den Rücksitz eines schwarzen Volkswagens. Im Auto nahm sie den Schleier ab. Das Gesicht sah Tom zwar nicht, erkannte aber die Frisur.
Ein rettender Engel
»Aber ich habe doch schon eine Managerin, Doris Bühmel, was ist mit der?« Francesco Arpata stand der Schweiß auf Stirn, Nasenflügeln und Kinn, das sich in seinem dicken, von Fettwülsten geprägten Gesicht sanft vorwölbte. Er saß zurückgelehnt und mit gespreizten Beinen auf seinem Stuhl, damit sein Bauch Platz hatte. Seine Stimme klang hell und weich, so als wäre sie von seiner Körperfülle gepolstert. Sein Hals wurde von einer bunten Fliege eingeschnürt, die über einer burgunderroten Seidenweste und einer schwarzen Anzugjacke prangte. Die Lippen wirkten in dem blassen Gesicht zu rot, aber der schwungvolle Amorbogen zeugte von einer Sinnlichkeit, die bei einem weniger aufgedunsenen Körper vielleicht verführerisch gewesen wäre.
»Um Fragen dieser Art brauchen Sie sich nicht mehr zu kümmern, wenn ich mich um die geschäftliche Seite Ihrer Karriere kümmere. Ein Künstler sollte sich darüber nicht den Kopf zerbrechen müssen.« Kamarov schnippte lautlos mit den Fingern, worauf ein Kellner in weißer Smokingjacke herbeieilte, um von dem exklusiven Rotwein
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