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Tödlicher Applaus

Tödlicher Applaus

Titel: Tödlicher Applaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Øystein Wiik
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dass er ihm vertraute. Am liebsten würde er Anna mit Gewalt von Victor trennen. Doch das würde sie ihm wahrscheinlich bis ans Ende ihrer Tage nicht verzeihen. Aber wenn er sie Victor überließ, würde der Verbrecher sie so lange einer Hirnwäsche unterziehen, bis sie nichts mehr mit ihrem eigenen Vater zu tun haben wollte. Vor diese beiden Alternativen gestellt, fühlte Steen sich machtlos. Nach und nach ging ihm auf, dass er seine Tochter verloren hatte. An einen Menschen, der in ihm nur tiefste Verachtung hervorrief. Michael bebte vor Wut. Da war es ihm fast lieber, sie wäre tot. Steen nahm den Gedanken eilig wieder zurück. Natürlich wünschte er seiner Tochter nicht den Tod. Victor hingegen …
    Wenn er ganz ehrlich war, wäre es für ihn eine große Erleichterung, wenn Victor tot wäre. Seine Gedanken quälten ihn, aber dennoch musste Steen zugeben, dass diese Vorstellung ihm Genugtuung bereitete, eine ungewöhnliche Linderung, eine intensive Ruhe. Wäre Steen nur etwas weniger in Gedanken versunken gewesen, hätte er vielleicht den Mann bemerkt, der ihm folgte.
    Seine planlose Wanderung hatte ihn in das alte Judenviertel Wiens geführt, das sich vom Rabensteig über die Seitenstettengasse und die Judengasse bis zum Ruprechtsplatz erstreckte. Mit einem Mal erschien es ihm verlockend, etwas Außergewöhnliches zu tun. Er betrat die Bar Rasputin in der Seitenstettengasse und bestellte einen Wodka. Der Barkeeper verkündete stolz, dass sie über zweihundert Sorten Wodka hätten, und fragte, welchen Wodka er bevorzuge.
    »Ich lasse mich überraschen«, antwortete Steen.
    Er war nicht in der Stimmung, zu wählen. Der Barkeeper blinzelte verschwörerisch und kam mit einem Glas zurück. Steen nahm es mit beiden Händen, war aber so aufgebracht, dass es ihm aus den Fingern rutschte und der Inhalt sich über seine Hose ergoss.
    Der Mann, der unmittelbar nach Steen die Bar betreten hatte, eilte mit einer Serviette herbei. Er war etwa in Steens Alter und trug ein Toupet, das bessere Tage gesehen hatte.
    »Danke schön«, sagte Steen in fehlerlosem Deutsch.
    »Bitte, bitte«, antwortete der Mann an seiner Seite. »Lassen Sie mich!« Er tupfte mit Sorgfalt Steens Hose trocken und verschwand hinter dem Tresen, um die Serviette zu entsorgen. Er schien sich in dem Lokal auszukennen.
    »Richter«, stellte er sich vor und setzte sich.
    »Steen.«
    Richter streckte seine Hand vor, und Steen antwortete mit einem festen Handschlag.
    »Zu Besuch in Wien?«
    Steen zögerte.
    »Entschuldigen Sie, dass ich so rundheraus frage, aber Sie sehen nicht aus wie ein Eingeborener«, erklärte Richter mit einem Lächeln.
    »Stimmt, ich bin auf der Durchreise. Eigentlich lebe ich in Stockholm.« Steen musterte Richter einen Augenblick. Der Mann hatte etwas Zwielichtiges, trotzdem wirkte sein Auftreten in gewisser Weise vertrauenerweckend. Außerdem hatte Steen das dringende Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen. Sich die Wut und Sorge von der Seele zu reden, die sein väterliches Herz beschwerten.
    »Harry, zwei Glas Champagner auf meine Rechnung«, sagte Richter.
    Der Barkeeper nickte und nahm eine Flasche heraus, die wie Kristall aussah.
    »Das ist besser als Wodka. Entschuldigen Sie, falls ich aufdringlich wirken sollte. Aber ich würde Ihnen gerne zeigen, was echte Wiener Gemütlichkeit ist!« Richter sah ihn an und hob das Glas. »Skål. Sagt ihr das nicht bei euch im Norden?«
    »Richtig«, antwortete Steen. »Sehr freundlich von Ihnen. Ich habe einen harten Tag hinter mir.« Dann setzte er hinzu: »Haben Sie Kinder?«
    Richter schüttelte den Kopf. »Und Sie?«
    »Ja, bis heute.«
    Richter rückte näher. »Erzählen Sie.«
    Steen begann zögerlich zu erzählen, und während er sich warmredete, füllte Richter ein ums andere Mal die Gläser. Die Kohlensäure hatte eine befreiende Wirkung auf den sonst eher zugeknöpften Michael Steen, und ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte er kurz darauf seine Seele und was sie quälte vor Richter bloßgelegt. Der joviale Wiener schien ein guter Zuhörer zu sein.
    »Das kann ich gut verstehen«, sagte Richter. »Obgleich ich selbst keine Kinder habe.« Er legte seine Hand tröstend auf Steens Schulter und sah ihm tief in die Augen. »Aber mit Drecksäcken kenne ich mich aus. Und ihr Schwiegersohn … Ich an Ihrer Stelle würde mir auch gehörig Sorgen um meine Tochter machen.«
    Steens Magen krampfte sich zusammen. Das war das Letzte, was er hören wollte. »Und ich kann nichts machen, das ist das

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