Tödlicher Applaus
verdrängte er die Geschehnisse des Morgens und konzentrierte sich auf seine bevorstehende Aufgabe. Die nächsten vierzehn Stunden erforderten seine ganze Aufmerksamkeit.
Der Taucher
Das Wasser des Bodensees um die Bregenzer Seebühne glitzerte, als der Taucher vom gegenüberliegenden Ufer hinüberblickte. Die Sicht war gut. Er schaltete die Stoppuhr ein und tauchte unter. Mit der Stirnlampe über der Taucherbrille konnte er dem Pfeil seines druckunempfindlichen, wasserdichten GPS folgen, was bei dem trüben Wasser nötig war. Er musste herausfinden, wie lange er von dieser Seite des Sees bis zur Seebühne brauchte. Ein paar Sekunden Abweichung durfte er einkalkulieren, mehr nicht.
Die Abendvorstellung begann um 21.15 Uhr. Peter Grimes stand auf dem Programm. Der erste Akt dauerte 54 Minuten und die dann folgende Pause eine halbe Stunde, also bis 22.39 Uhr. Der zweite Akt war in höchstens 44 Minuten vorbei, wenn Cipriani dirigierte. 23.23 Uhr. Der letzte Akt dauerte dann noch einmal knapp 39 Minuten. Das Boot sollte exakt um 24 Uhr sinken, an einer Stelle im See, die mit Unterwasserscheinwerfern beleuchtet wurde.
Der Taucher sah auf die Uhr. Er hatte 19 Minuten und 23 Sekunden gebraucht. Um sicherzugehen, sollte er aufbrechen, wenn der dritte Akt begann.
Dann glitt er wieder in die Tiefe und schwamm die gleiche Strecke zurück. Es war 16.04 Uhr, als er sich auf einem der Ufersteine zum Trocknen in die Sonne legte. Er nahm die Tauchermaske und die Kapuze ab und schüttelte seine blonden Locken.
Von der Seebühne drang ein Klopfen und Hämmern herüber. Die Bühnenarbeiter bereiteten alles für die letzte Peter-Grimes- Aufführung der Saison vor. Eine geniale Aufführung unter der Regie des jungen Nick Puttam. Handlung und Ort passten perfekt zu den Bregenzer Festspielen. Die Seebühne war für diesen Zweck zur englischen Ostküste umgestaltet worden, an der das kleine Fischerdorf The Borough lag. Die Mitwirkenden kamen in Fischerbooten auf die Bühne, und der See unterstützte die Szenerie und das Bühnenbild hervorragend.
Where’s my home? Deep in calm water. Water will drink my sorrows dry and the tide will turn. Come home, come home, come home! Wenn diese Zeilen gesungen wurden, würde der Countdown beginnen.
Jetzt musste er nur noch Hartmanns Handy mit seinem Laptop blockieren, sodass sie ihn erst erreichen konnten, wenn er das wollte.
Er zog sich an den Waldrand zurück und begann seine Ausrüstung vorzubereiten. Ihm blieb noch immer ausreichend Zeit, und er nutzte sie, um sich mental auf das vorzubereiten, was vor ihm lag. Er setzte sich bequem hin und begann langsam und rhythmisch zu atmen. Ein und aus, unterbrochen von einer fest bemessenen Pause. Dabei spannte er jeden Muskel in seinem Körper an, einen nach dem anderen, wie Vater Joachim es ihn gelehrt hatte: volle innere Konzentration, volle äußere Anspannung.
Peter Grimes’ letzte Reise
Tom Hartmann war noch nie am Bodensee gewesen. Das knappe Budget seines Magazins hatte solche Extravaganzen nicht zugelassen. Er hatte sich eine Decke mitgenommen, falls es am späteren Abend kalt werden würde. Vorläufig brauchte er sie aber nicht. Der Abend war mild und der Boden so aufgeheizt von der Sonne, dass selbst das vereiste Knochenmark eines Nordländers aufzutauen begann.
Er überprüfte sein Handy ein letztes Mal, bevor die Vorstellung begann. Es hatte den ganzen Tag nicht funktioniert. Er hatte es ab- und wieder angeschaltet, den Akku herausgenommen und wieder eingelegt. Trotzdem war immer nur eine Fehlermeldung gekommen, sodass er nicht mit Katja hatte sprechen können. Tom war noch immer ganz verwirrt, dass sie ihn wirklich liebte, aber das war Grund genug, optimistisch nach vorn zu blicken. Wenn nur nicht diese verfluchte Zeichnung gewesen wäre. Er verdrängte sie und dachte stattdessen an sein vormittägliches Treffen mit Francesco Arpata.
Eigentlich sollte man sich nicht mit weltberühmten Menschen treffen, wollte man sich die Illusion von ihnen bewahren. Arpata war da keine Ausnahme. Er war einer dieser Interviewpartner, die man vor ihrer eigenen Dummheit schützen musste. Selbstverliebt bis zum Umfallen und mit einem intellektuellen Horizont, der höchstens bis an den Rand der Bühne reichte.
Er hatte Tom eine halbe Stunde warten lassen, sich dafür aber mit keiner Silbe entschuldigt.
Sein Auftritt in der Hotelbar war aufsehenerregend gewesen. Er hatte sich einen Schal um Hals, Mund und Nase geschlungen, obgleich
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