Tödlicher Applaus
längst zum Kammersänger aufgestiegen, die ehrenvollste Auszeichnung, die man als Sänger in Österreich bekommen konnte.
»Sie waren heute richtig gut, Alexander«, sagte Wassermann und sah ihn mit freundlichen, kurzsichtigen Augen an. Er wusste genau, wie er den kollegialen Schulterschluss der Opernsänger durchbrechen konnte. Tadel den einen und lobe den anderen.
Über Lamlas Gesicht huschte ein Anflug von kindlichem Stolz. »Ach, wirklich? Ich will mich natürlich nicht in die künstlerische Diskussion zwischen Ihnen einmischen …« Lamla zog sich hastig in den Hintergrund zurück, wo er sogleich damit begann, Ausdruck und Repliken zu üben, um beim Regisseur Eindruck zu schinden.
»Das ist keine künstlerische Diskussion!«, fauchte Olga Martonova. »Das ist übelste Schikane!«
»Nein, das ist keine Schikane, Sie misshandeln das Stück!« Wassermann holte tief Luft, bevor er weiterredete. Irgendwann bekam jeder während der Proben zu einem neuen Stück seinen beißenden Sarkasmus zu spüren. »Sie können nicht vor dem Terroristen weglaufen, um Ihre Arie zu singen! Der erschießt Sie doch sofort! Ich sollte Sie der Polizei melden wegen Missbrauchs Ihres Talents.«
»Ich muss meine Arie vom Bühnenrand singen, wenn ich das Orchester übertönen will! Das ist bei diesem Stück so unüberwindbar wie die Berliner Mauer.«
Jetzt eilte auch der Komponist, Klaus Häfer, herbei, der für seine zeitgenössischen Opernwerke bereits zahlreiche internationale Preise gewonnen hatte. Er war gemeinsam mit dem Librettisten Gustav Karstensen beauftragt worden, das Eröffnungswerk für die diesjährige Saison der Wiener Staatsoper zu schreiben. Das Stück war von dem Terrorangriff auf das Dubrovka-Theater in Moskau im Oktober 2002 inspiriert, und es war Karstensens Idee gewesen, es wie eine Reality-Show zu produzieren. Es sollte wie eine Terror-Live-Übertragung aussehen, die weltweit im Fernsehen ausgestrahlt wurde.
»Kann ich irgendetwas tun, um das Problem zu lösen?« Häfer hatte größte Bedenken, dass das Projekt noch kurz vor der Premiere an die Wand fuhr. Seit Beginn der Proben hatte es Probleme und Konflikte gehagelt. Hektische rote Flecken zeichneten sich auf dem sonst eher blassen Gesicht Häfers ab. »Ich kann das Orchester etwas dünner besetzen und die Arie umschreiben. Sie müssen es mir nur sagen.«
»Es bleibt genau so, wie es ist.« Wassermann war jetzt kühl und unmissverständlich. »Das ist kein Solostück für Frau Kammersängerin Martonova. Ich will, dass die Arie wie ein verzweifelter, halb erstickter Schrei wirkt, der eben nicht durch den dichten Orchesterklang dringt. Da ist ein Mensch, der verzweifelt versucht, sich Gehör zu verschaffen.«
»Das hat doch nichts mit Oper zu tun. Oper ist Musik, nicht halb erstickte Schreie!«
»Frau Kammersängerin, was Sie betreiben, ist keine Musik, sondern Onanie. Opernonanie!«
Jedes Geräusch verstummte wie bei einer totalen Sonnenfinsternis. Noch nie hatte jemand gewagt, so mit Olga Martonova zu reden.
Sie stand einen Augenblick reglos da, wie eingefroren in der Zeit. Dann trat sie dicht vor Philip Wassermann. »Genug ist genug«, sagte sie. »Ich gehe, und ich werde nicht wieder zurückkommen.« Olga Martonovas Abgang war ebenso dramatisch wie Toscas Sprung von der Engelsburg. Sie trat in einem großen Bogen ab und schritt diagonal zur hinteren linken Ecke der Bühne, von wo aus sie ihre letzte Salve abfeuerte: »Amateure!«
Regisseur, Komponist, Orchester und Dirigent waren wie gelähmt. Es war die erste Probe mit Orchester, und sie hatten nur noch eine Woche bis zur Premiere.
»Soll ich versuchen zu vermitteln? Ich kenne Olga Martonova wie meine eigene Schwester.« Häfer sah Wassermann bittend an.
Wassermann musterte Klaus Häfer. Es war jämmerlich, diesen großen Komponisten aus lauter Furcht, sein Werk könne nicht aufgeführt werden, derart devot zu sehen.
»Nicht nötig«, sagte Philip Wassermann beinahe munter und wandte sich an den Inspizienten. »Rufen Sie Maria auf die Bühne!«
Großväterliche Sorge
Michael Steen wählte Marias Nummer. Wie gewöhnlich landete er auf ihrem Anrufbeantworter, wusste aber, dass sie bei der ersten Gelegenheit zurückrufen würde. Steen vergötterte seine Enkelin, seit Annas Unfall war sie der Trost und Rückhalt seines Lebens. Auch Maria liebte ihren Großvater über alles – sehr zum Leidwesen ihres Vaters, dem diese enge Beziehung ein Dorn im Auge war.
Michael Steen war noch immer ein
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