Tödlicher Applaus
vitaler Mann, dem man sein Alter nicht ansah. Trotz seiner fünfundsiebzig Jahre saß er in diversen Aufsichtsräten und verfügte als Diplomat a. D. über ein imposantes Kontaktnetz weltweit.
Gerüchte besagten, Steens Netzwerk erstrecke sich bis in die dunklen Schichten der Gesellschaft, sogar von Russenmafia war die Rede, doch seine augenscheinliche Integrität und Aufopferungsbereitschaft machten ihn über jeden Zweifel erhaben.
Michael Steen liebte die Einsamkeit. Meine Bücher sind meine besten Freunde, sagte er gern. Außerdem war er rund um die Uhr mit der Pflege seiner Tochter Anna beschäftigt.
Marias einzigartige stimmliche Begabung hatte sich schon im Kindesalter gezeigt. Zu ihrem achten Geburtstag schenkte ihr Großvater ihr ein Buch mit schwedischen Volksliedern, und als sie ihn im folgenden Sommer besuchen kam, kannte sie bereits alle Lieder auswendig und verzauberte ihn und seine Gäste auf der Schäreninsel mit ihrer glockenhellen Stimme.
Maria hatte in ihrer Jugend viele Sommer bei Steen in den Schären verbracht, zum einen, um ihrer Mutter nahe zu sein, zum anderen, weil Kamarov zu beschäftigt war, um sich um sie zu kümmern. Steen hatte diese Lücke nur zu gern geschlossen. Die Sommer mit Maria waren wie eine Erinnerung an seine besten Jahre, als Anna noch ein Kind war.
Steen sah aus dem Fenster und blickte über die Schären. Draußen im Garten blühten die blauen, remontierenden Rosen, die Anna in ihrem letzten Sommer gepflanzt hatte, im Sommer vor dem Unfall. Wie so oft verfluchte er Victor Kamarov und schrie seine Wut in die Nacht hinaus. Niemand würde ihn hören, das Sommerhaus war von einem dreißig Hektar großen Grundstück und dem Meer umgeben. Anna lag jetzt seit zweiundzwanzig Jahren im Koma. Seitdem war kein Morgen vergangen, an dem er beim Aufwachen nicht gedacht hatte: Heute wacht sie vielleicht auf.
Steen war sicher, dass Kamarov Anna nie wirklich geliebt hatte, und hasste sich dafür, dass er so dumm gewesen war, Anna nachzugeben. Seine Tochter hatte sich für die falsche Seite entschieden und ihm damit alle Macht und Möglichkeiten genommen, das zu tun, was er als Vater hätte tun müssen: diesen Kamarov so weit wie nur möglich in die Kälte zu verbannen. Doch er hatte Kamarov Rache geschworen, bis zum Ende seiner Tage.
Auf dem Wohnzimmertisch lag ein Stapel Papiere, Unterlagen über Kamarov Management. Steen war dank seiner Verbindungen zu diesen Papieren gekommen, und sie bestätigten seine schlimmsten Vermutungen. Steen vermochte den Zustand eines Betriebes auf der Grundlage von weit weniger Dokumenten einzuschätzen, als hier zur Verfügung standen, und so bestand kein Zweifel: Es war schlecht um Kamarovs Imperium bestellt, sehr schlecht. Das war erstaunlich, denn bis vor Kurzem war der Strom frischen Geldes, der in das Unternehmen geflossen war, ausgezeichnet gewesen. Ein bisschen zu ausgezeichnet. Die Summen hatten nicht ganz übereingestimmt mit den Honoraren, die Sänger für gewöhnlich erhielten. Steen hatte die Einkünfte einiger von Kamarovs wichtigsten Sängern überprüft und war zu der Erkenntnis gelangt, dass dort etwas ganz und gar nicht stimmte.
Kamarovs Firmenmodell war kompliziert und unübersichtlich, und wenn man die Teilfirmen einzeln untersuchte, sahen die Rechnungen plausibel aus. Verglich man sie aber miteinander, wurden Abweichungen deutlich. Kamarov operierte auf einem Markt, der keine Exponierung duldete. In gewisser Weise erleichterte es Steen, jetzt Gewissheit darüber zu haben.
Er umkreiste das Telefon in der Hoffnung, Maria würde zurückrufen. Schließlich klingelte es. Steen warf sich förmlich auf den Hörer: »Maria, hier ist Opa.«
Marias perlendes Lachen war Musik in seinen Ohren. »Das weiß ich doch, ich hab doch dich angerufen.«
»Wo bist du?«
»In Wien, in der Oper. Wir haben bald Premiere. Eine neue, spannende Oper, die auf der Geiselnahme im Dubrovka-Theater basiert.«
»Ich dachte, heutzutage würde überhaupt niemand mehr singen. Die haben doch alle abgesagt.«
»Papas Sänger weigern sich zu singen. Wegen dieses blöden Gerüchts im Netz, der Mörder habe es auf sie abgesehen. Natürlich ist das, was passiert ist, furchtbar, aber dass die Alten jetzt aus Angst nicht mehr auftreten, ist für uns Junge eine fantastische Chance!«
Steen gefiel das ganz und gar nicht. Er war sich nicht darüber im Klaren gewesen, dass seine unersetzbare Maria bereits zum Sprung ins professionelle Lager ansetzte. »Bist du dir denn
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