Toedlicher Blick
halbe Million. Einen Porsche Boxter S konnte man für fünfzigtausend haben.
Er sah das Bild vor sich: Er sitzt in dem Porsche, gekleidet in eine braune Lederjacke – nicht Wildleder, dachte er, Wildleder ist passé–, dazu Autohandschuhe in einem dunkleren Braun, und er hebt die Hand, grüßt eine kleine blonde Studentin an der Straßenecke, die ihm bewundernde Blicke zuwirft … Das Bild war so real, dass er sich auf seinem Küchenstuhl vollkommen in diese Szene versetzt sah und grüßend die Hand hob. Ja – ein kühler, klarer Herbsttag, bunte Blätter an den Straßenrändern, der Geruch von Gartenfeuern in der Luft, ein Tag wie gemacht für die Lederjacke und für das Mädchen im karierten Rock und der langärmligen weißen Bluse, eine Strickjacke lose um die Schulter gehängt …
Seine Mutter hatte gesagt, sie sei beunruhigt. Er hastete zu seinem Wagen.
Er stellte den Wagen in der Zufahrt ab, stieg die Stufen zur Veranda hoch und blieb einen Moment stehen, um das Haus zu betrachten – o Gott, das hatte er ja ganz vergessen … In dieser Gegend und in seinem guten Zustand war es mindestens eine Viertelmillion wert. Und sie hatten bisher keinerlei Pläne gemacht, wie man die Erbschaftssteuer so weit wie möglich umgehen konnte. Der Gedanke, dass er das Haus oder auch nur einen Teil davon an die Steuer verlieren könnte, zwang wieder einmal Tränen in seine Augenwinkel. Er straffte die Schultern und drückte auf die Klingel an der Hauswand.
Helen kam zur Tür, stieß die Sturmtür auf, sagte barsch: »Komm rein.« Sie klingt nicht niedergeschlagen, dachte er.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte er.
»Nein.« Sie ging voraus ins Wohnzimmer zu einer Couchgarnitur vor dem Fernsehgerät und setzte sich in ihren Schaukelstuhl. Qatar wartete, bis sie Platz genommen hatte, setzte sich dann auf die Couch. Sie nahm eine Fernbedienung von ihrem Beistelltisch und schaltete das Fernsehgerät und den Videorekorder ein. Zu seinem Erstaunen sah Qatar die Bilder eines alten Films. Nach einigen Sekunden hielt Helen den Film an, und das Gesicht eines gut aussehenden Schauspielers blieb in Großformat auf dem Bildschirm stehen.
»Die Polizei war inzwischen dreimal bei mir«, sagte sie. »Und zwar im Zusammenhang mit dem Mädchenmörder, der seine Opfer auf diesem Hügel vergraben hat. Sie haben herausgefunden, dass er eine Ausbildung in bildender Kunst absolviert hat; dass er einige Zeit in Stout, Wisconsin, gelebt hat; dass er in irgendeiner Verbindung zu St. Patrick und mir selbst steht; dass er vermutlich Charlotte Neumann ermordet hat …«
Als sie zu sprechen begann, waren Qatars Sinne sofort in Alarmzustand versetzt. Er war ein außergewöhnlich geschickter Lügner, war es von Kindheit an gewesen; sein Gesichtsausdruck blieb entspannt und aufmerksam, ein wenig fragend und verwundert, worauf sein Gegenüber denn da hinauswollte. Und er war darauf vorbereitet, seine Empörung überzeugend zum Ausdruck zu bringen.
»Und«, fuhr seine Mutter fort, »sie haben herausgefunden, dass er wie dieser Mann da aussieht.«
»Aha. Und?«
»James – das bist
du
, vor zehn Jahren. Oder auch nur fünf. Das bist du!«
Er senkte das Kinn. Dann sagte er mit erhobener Stimme: »Du meinst … du meinst tatsächlich, Mutter,
ich
sei das? Mein Gott, dieser Mann ist ein Monster. Und du meinst, ich könnte das sein?«
Sie bewegte den Kopf hin und her. »Ich fürchte, das ist es, was ich denke, James. Ich bitte dich, mich zu überzeugen, dass es nicht wahr ist. Aber ich habe an die armen Katzen mit den umgedrehten Hälsen denken müssen …«
»Das war ich nicht. Das war Carl Stevenson. Ich habe dir damals gesagt, dass es Carl war.«
Sie schüttelte den Kopf. »James …«
»Was kann ich dir noch sagen?« Er sprang auf. »Mutter, ich bin nicht dieser Mann. Ich habe diese Untaten nicht begangen.«
»Überzeuge mich.«
Er schüttelte den Kopf. »Das ist doch verrückt! Der helle Wahnsinn! O Gott, ich kann nur hoffen, dass du noch mit niemandem darüber gesprochen hast. Meine Karriere, mein ganzes Leben steht auf dem Spiel. Ich habe nichts – nichts! – mit dieser Sache zu tun, aber eine Beschuldigung oder allein schon die Äußerung eines Verdachts würde das Ende für mich bedeuten. Mein Gott, Mutter, wie kannst du nur so etwas von mir denken?«
Sie sah ihn an, und jetzt standen Tränen in ihren Augen. »Ich möchte dir gerne glauben, aber ich kann es nicht. Ich wusste, dass du diese Katzen umgebracht hast. Ich habe es
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