Toedlicher Blick
manchmal zu übereilten Analysen; er wollte jedoch bei jeder Vorlesung als ein Lehrer dastehen, der gründlich und ausgewogen urteilte. Und die Dias mussten auch in einer gewissen ästhetischen Reihenfolge präsentiert werden. Er fand es unmöglich, wenn helle, leuchtende Dias direkt vor dunkelfarbigen gezeigt wurden. Das war dann, als ob man zu einer schweren, kräftig gewürzten Mahlzeit einen milden, lieblichen Wein trinken würde – man konnte keines von beiden so richtig genießen.
Über diese Gedanken hinaus aber lauerte in einer Ecke seines Bewusstseins die Angst, die von dem ständig anwachsenden Medienrummel um den Totengräber hervorgerufen wurde. Ein Polizeiteam arbeitete immer noch auf seinem Hügel, und täglich gab es neue Horrormeldungen über weitere Leichenfunde, die dann jedoch stets widerrufen wurden. Und Spekulationen darüber, was das für ein menschliches Monstrum sein müsse, das so viele Frauen ermordet hatte. Zwei Fernsehstationen hatten pensionierte FBI-Agenten angeheuert, um Profile des Killers zu erstellen; sie kamen im Allgemeinen zu ähnlichen Ergebnissen, aber einer der Profiler spezifizierte den Mörder als »besonders anspruchsvollen Kleidernarren«, der darüber hinaus in seinen persönlichen Gewohnheiten ebenso akribisch sei wie bei der Anlage seines Friedhofs …
Das alles ging ihm während des Dia-Sortierens durch den Kopf. Dann wurde er durch das Läuten des Telefons aus seinen Gedanken gerissen. Er vermutete, dass Ellen ihn anrief, und so war es auch.
»Ich bin zurück«, sagte sie mit ungewöhnlich aufgeregter Stimme. »Hast du meine Nachricht bekommen?«
»Ja. Heute Nachmittag passt gut. Wie viel Geld hast du für den Weinkauf?«
»Bis zu einem Tausender. Ich habe den großen, besonders gut gelungenen Quilt, den mit dem darüberhuschenden Licht, verkaufen können. Ich denke, mit tausend kann man sich einen guten Vorrat anlegen, oder?«
»Ja, einen guten Grundvorrat«, bestätigte Qatar. »Ich bringe meine Angebotslisten mit, die sehen wir uns erst mal an, ehe wir losgehen.«
»Hör zu … Ich will nicht alles vorwegnehmen, aber … hast du mal was von Strangulation als Sexspiel gehört?«
»Waaas
?«
»Ich habe es gestern Abend im TV gesehen. Eine Art Dokumentarfilm. Ein Mann hat sich selbst aufgehängt – nicht ganz, aber doch so weit, dass ihm die Luft ausging –, und als ihn die Polizei später dazu befragte, sagte er, er hätte dabei den tollsten Orgasmus seines Lebens gehabt.«
»Hmm … Ich habe gehört, dass es so was gibt, aber es ist doch bestimmt mit schlimmen Schmerzen verbunden. Anscheinend machen die Leute es oft mit Seidenkrawatten, aber ich halte es für gefährlich. Es können Gehirnschäden entstehen.«
»Oh … Aber wenn du
echt
vorsichtig wärst …«
»Ellen, ich weiß nicht … Na ja, warten wir mal, bis ich bei dir bin. Wir wollen aber nicht
zu
weit gehen.«
»Okay. Bis heute Nachmittag.« Wieder klang sie ein wenig atemlos. Sie schien sich nebenher mit irgendetwas zu beschäftigen …»Aber, James …
denk
darüber nach.«
Und er konnte gar nicht aufhören, darüber nachzudenken. Er dachte noch darüber nach, als er seine Sortierarbeit beendet hatte, und seine Erektion war so hart, dass sie ihn fast schmerzte. Er hätte sofort etwas dagegen unternommen, aber er musste zur Vorlesung. Und dort …
Dort, in seiner Vorlesung zum Thema »Der Nährboden der Romantik«, war unter den Studenten diese keusche Jungfrau, die seinem Wunschbild fast perfekt entsprach: klare, ausdruckslose blaue Augen, attraktiver schlanker Körper, hübsches blondes Haar. Sie wäre
wirklich
perfekt, dachte er, wenn sie nicht ununterbrochen Kaugummi kauen würde und ständig einen Knopfhörer in einem Ohr stecken hätte. Sie hörte also während seiner Vorlesung irgendwelche Musik, und als er sie erzürnt darauf angesprochen hatte, hatte sie zutiefst erstaunt den Hörer aus dem Ohr genommen und gesagt, sie höre sich doch nur Hintergrundmusik an, die zu seiner Vorlesung und der Kunst im Allgemeinen passe. Sie bemühe sich immer, angemessene Stücke auszusuchen.
»Welcher Art?«, hatte er gefragt. »Beethoven?«
»Nein, Enigma«, hatte sie geantwortet.
»The Screen Behind The Mirror.«
»Oh …
«
Heute nun saß sie wieder ganz unschuldig da und hatte die jungfräulichen, hübsch in Nylons verpackten Beine ein Stück in den Gang gestreckt. Sie trug einen dünnen weißen Pullover wie die Filmstars in den fünfziger Jahren …
Er dachte an Strangulation und
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