Toedlicher Hinterhalt
stand, dass du ihn und Tom gegen elf rausgeschmissen habest, weil du schlafen gehen wolltest.«
»Das war gelogen«, gestand er. »Ich wollte allein sein. Im Moment habe ich das Gefühl, nur mal Zeit für mich zu haben, wenn ich im Bett liege – und es sollte genau umgekehrt sein.«
Kelly hörte, wie er mit der Gehhilfe weiter ins Zimmer schlurfte. »Komm lieber nicht rein«, sagte sie. »Es braucht nicht viel, und ich fange an zu weinen.« Und bei Gott, Charles hasste es, wenn geheult wurde.
Er hielt inne. »Oh.«
Betsy würde es nicht schaffen. Das war Kelly an diesem Abend klar geworden. Die Chemo brächte das kleine Mädchen höchstwahrscheinlich um. Aber ohne die Therapie würde der Krebs sie auf jeden Fall töten. »Höchstwahrscheinlich« war mit Schmerzen und Leid verbunden, aber »auf jeden Fall« bedeutete unausweichlich. Ihre Eltern mussten eine schlimme Entscheidung treffen.
Kelly hatte stundenlang mit den McKennas und Vince Martin zusammengesessen, um über verschiedene Medikamente zu sprechen, die möglicherweise gegen die Nebenwirkungen der Chemo halfen oder sie zumindest abmilderten. Es kam auf den Versuch an, doch es zu versuchen bedeutete wiederum, dass es auch nach hinten losgehen und schmerzhaft werden konnte.
Die McKennas hatten sie fragend angesehen, doch sie war nicht in der Lage, ihnen zu helfen. Sie hatte keine Antworten parat, noch nicht einmal an diesem Tag, da Toms Geruch noch an ihr haftete und ihre Haut noch von ihrer herrlich perfekten körperlichen Vereinigung ganz warm war.
Zu wissen, dass es sich bei ihm um jenen Liebhaber handelte, von dem sie immer geträumt hatte – und noch mehr –, half ihr nicht weiter, als Brenda McKenna sie mit ihren dunkelbraunen Augen anflehte, ihnen zu sagen, was sie tun sollten. Ihr Kind sterben lassen oder versuchen, es zu retten, und dann dabei zusehen zu müssen, wie es litt. Wobei die Kleine es danach höchstwahrscheinlich dennoch nicht schaffen würde.
Kelly hatte Tom praktisch versprochen, wenn sie nach Hause käme, das zu Ende zu bringen, was sie angefangen hatten. Aber momentan war Sex wirklich das Allerletzte, was sie wollte. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, das Leben auf diese Art zu feiern, während sie wusste, dass die McKennas dem Tod ins Auge sehen mussten und sich dermaßen quälten.
Tom wartete vermutlich oben in ihrem Zimmer auf sie.
Sie atmete tief ein, setzte sich auf und wandte sich ihrem Vater zu.
»Brauchst du etwas?«, fragte sie Charles. »Soll ich dir einen Proteinshake machen?«
»Nein.« Er räusperte sich. »Danke, aber …«
»Ist es Zeit für eine Tablette?«
»Ich hab vor einer Stunde eine genommen.«
»Geht es dir so weit … okay?«, wollte sie wissen. »Soll ich den Arzt anrufen und um eine stärkere –«
Er hob eine Hand von seiner Gehhilfe und tat ihren Vorschlag winkend ab. »Nein, mir geht’s gut. Jedenfalls verhältnismäßig.«
Hatte sie etwas getan, wodurch seine sorgsam geordnete Welt durcheinandergebracht worden war? Kelly fiel nichts ein, außer … ups. Außer dass sie Tom mitten am Nachmittag in ihrem Schlafzimmer verführt hatte. War Charles irgendwie dahintergekommen?
Er wirkte gereizt und verärgert, aber mehr über sich selbst als über sie.
»Soll ich dir das Bett neu beziehen?«, versuchte sie es mit etwas anderem.
Vielleicht hatte er es im Schlaf dreckig gemacht. Das war ihm bisher zwar noch nie passiert, aber sie wusste genau, dass ein derartiger Kontrollverlust bei seinem stets schlechter werdenden Gesundheitszustand jederzeit eintreten konnte. Deswegen hatte sie Einweg-Windelhosen gekauft und die Packung ebenso wie die Gehhilfe einfach in das Zimmer ihres Vaters gestellt. Für den Fall, dass er sie brauchte, müsste er nicht fragen.
Aber er wäre nicht in der Lage, selbst das Bettlaken zu wechseln. Und sie konnte es verstehen, wenn er Joe nicht um Hilfe bitten wollte.
»Nein«, teilte er ihr ärgerlich mit. »Ich möchte nur –«
Sie wartete ab.
»Ich möchte mich nur einen Moment zu dir setzen und mit dir reden. Aber wenn du dich … Na ja, später ist auch in Ordnung.« Er wandte sich ab und ging wieder den Flur hinunter.
Ihr Vater wollte mit ihr reden?
Kelly fühlte sich unfähig, zu denken, geschweige denn, sich zu bewegen. Warum bloß wollte ihr Vater mit ihr sprechen? Plötzlich grübelte sie nur noch über die möglichen Gründe nach. Vielleicht würde er ihr mitteilen, dass er sich mit dem Sterben abgefunden hatte, mit der Tatsache, dass ihm die Zeit
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