Toedlicher Hinterhalt
ich würde wieder zur Vernunft kommen. Aber das ist nie geschehen. Nie!
Also haben wir, Joe und ich, Ste.-Hélène kurz nach Einbruch der Dunkelheit verlassen. Es war eine klare, warme Nacht, und wir bewegten uns in nordwestlicher Richtung auf einem Pfad, den Joe und Cybele oft genutzt hatten. Ich erinnere mich noch daran, dass ich mich bei jedem Schritt fragte, wie ich hatte gehen können. Wie hatte ich gehen können, ohne irgend etwas zu sagen? Wie sollte ich nach Baldwin’s Bridge zurückkehren, ohne wenigstens noch einmal in ihr Gesicht geschaut zu haben? Und dann wurde mir klar, dass ich es irgendwie bewusst getan hatte. Ich war absichtlich gegangen, ohne mich zu verabschieden – denn so würde ich noch einmal nach Ste.-Hélène fahren müssen , bevor ich für immer zurück in die Staaten ging. Ich würde Cybele noch einmal sehen. Und als mir bei diesem Gedanken ganz leicht und froh ums Herz wurde, wusste ich, dass ich sie mehr als alles andere liebte. Das Haus in Baldwin’s Bridge – dieses Haus –, von dem ich so oft gesprochen und nach dem ich mich während meines Martyriums in Frankreich so oft gesehnt hatte, meine Familie, meine Frau, mein Leben – verglichen mit meiner Liebe zu Cybele bedeutete das alles rein gar nichts.«
Er schwieg, schloss die Augen, und so sehr Kelly sich auch wünschte, er möge Schlaf finden, so hoffte sie doch, dass er sich nur einen kurzen Moment lang ausruhte.
»Was ist dann passiert?«, flüsterte sie gespannt. »Warum bist du nicht in Frankreich geblieben, Daddy?«
Seine Tabletten entfalteten nun ihre starke Wirkung. Als er die Augen öffnete und sie anblickte, schien er durch sie hindurchzuschauen, als könnte er all die Jahre zurück in seine eigene Vergangenheit sehen.
»Wir hatten höchstens sieben Meilen hinter uns gebracht, da holte Cybele uns ein. Sie war die ganze Strecke gerannt, besaß aber immer noch genug Energie, um mir eine zu klatschen, als sie uns erreichte. Ich habe sie natürlich geküsst. Sie war so wütend, aber ich küsste sie und sagte ihr alle die Dinge, die mir während des Marschs bewusst geworden waren. Dass ich nach dem Krieg nach Ste.-Hélène zurückkehren wollte. Dass ich sie liebte. Dass ich alles für sie tun würde. Sogar sterben.«
Ihr Vater lachte leise, er wirkte immer noch abwesend, und Kelly ahnte, dass er sie vor Augen hatte – seine Cybele.
»Sie weinte und sagte, sie würde niemals wollen, dass ich für sie stürbe und es nicht zulassen. Niemals.« Er schüttelte den Kopf. »Armer Joe. Es muss die reinste Folter für ihn gewesen sein, dazustehen und mitanzuhören, wie wir uns unsere Liebe gestanden – er hat sie ebenso sehr geliebt wie ich, weißt du. Wahrscheinlich sogar noch mehr.
Doch dann teilte Cybele uns mit, warum sie uns gefolgt war. Nicht etwa, weil sie mir eine Backpfeife hatte verpassen wollen – auch wenn sie froh über die Gelegenheit dazu gewesen war. Sie berichtete uns von einer bevorstehenden Gegenoffensive der Deutschen. Ihr waren Dokumente zugespielt worden, auf denen der Angriff beschrieben wurde. Sie mussten noch vor Anbruch des Tages in die Hände der Alliierten gelangen.
Also gingen wir. Alle drei. Überall schienen Deutsche zu sein, als wir uns auf die Front zubewegten. Es war unfassbar gefährlich – ich hatte nie zuvor solche Angst gehabt.«
Seine Stimme bebte. »Dann wurde Joe verwundet, und die Lage spitzte sich zu. Wir kamen mit ihm nur noch langsam voran, konnten ihn aber auch nicht zurücklassen. Wie hätten wir das? Als wir uns schließlich durch eine Stadt bewegten – ich habe ihren Namen nie herausgefunden, aber die Häuser dort lagen vollkommen in Schutt und Asche, die Straßen ließen sich unmöglich passieren –, saßen wir plötzlich in der Falle«, sagte er ausdruckslos. »Wir versteckten uns in den Trümmern vor einer deutschen Patrouille. Die Soldaten kamen direkt auf uns zu. Es war vorbei. Ich wusste, es war vorbei. Aber ich hatte meine Waffe im Anschlag. Ich wollte so viele ausschalten wie möglich und, verdammt, in diesem Moment hätte ich es wohl auch tun können. Ich hätte sie alle töten können, und wir wären davongekommen. Zum Teufel damit, dass sie alle Maschinengewehre besaßen und ich nur eine kleine Luger. Aber ich kam erst gar nicht dazu, es zu versuchen, denn Cybele drückte mir die Dokumente und ihre Waffe, eine Walther PK , in die Hand. Ich verstand nicht, was sie vorhatte. Gott, ich war so dumm.«
Tränen standen ihm in den Augen, und Kelly schlug das Herz
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