Tödlicher Irrtum
zerstreut.
»Du willst mich offenbar unbedingt loswerden, Gwenda?«
Sie trat schnell auf ihn zu und kniete vor seinem Sessel nieder.
»Wie kannst du nur so etwas sagen, Liebling! Ich möchte mich nie von dir trennen, niemals! Aber im Augenblick halte ich es für besser, dass du fortfährst, nachdem…«
»Nachdem uns Dr. Calgary in der vorigen Woche gewisse Dinge mitgeteilt hat.«
»Ich wünschte, er hätte dieses Haus nie betreten«, sagte Gwenda. »Ich wünschte für uns alle, es wäre alles beim Alten geblieben.«
»Dann würde Clark weiterhin für ein Verbrechen haftbar gemacht werden, das er nicht beging.«
»Ich hätte es ihm zugetraut, und ich halte es für einen reinen Zufall, dass er es nicht getan hat«, meinte Gwenda heftig.
»Ich hielt es eigentlich zuerst nicht für möglich«, sagte Leo nachdenklich. »Natürlich änderte ich meine Meinung, als alle Beweise gegen ihn zu sprechen schienen, doch selbst dann hatte ich noch meine Zweifel.«
»Warum? Er war schon als Kind böse und reizbar.«
»Das stimmt, er pflegte andere Kinder zu verprügeln, und meist waren es kleinere Kinder als er, aber Rachel hätte er, glaube ich, nicht angegriffen, weil er zu viel Respekt oder besser Angst vor ihr hatte.«
»Eben deshalb nehme ich an, dass er…« Gwenda unterbrach sich.
Ja, er hat Respekt und Angst vor ihr gehabt, dachte sie. Sie war so selbstsicher und von sich überzeugt, sie hielt sich für eine Königin, deren Wünschen wir alle nachzukommen hatten. Genügt das nicht, einen Menschen dazu zu treiben, den Feuerhaken zu ergreifen und die Tyrannin ein für allemal zum Schweigen zu bringen?
»Warum können wir nicht sofort heiraten, anstatt bis zum März zu warten?«, fragte sie unvermittelt.
Leo sah sie an und erwiderte nach kurzem Zögern:
»Nein, das halte ich nicht für richtig, Gwenda.«
»Warum nicht?«
»Man soll die Dinge nicht überstürzen.«
»Das verstehe ich nicht – und werden wir, wie geplant, im März heiraten?«
»Ich hoffe – ich hoffe bestimmt.«
»Warum bist du plötzlich so unsicher? Liebst du mich nicht mehr, Leo?«
Er legte die Hände auf ihre Schultern.
»Wie kannst du so etwas nur denken, Gwenda! Ein Leben ohne dich wäre unvorstellbar für mich, du bedeutest mir alles! Aber wir müssen abwarten, wir müssen ganz sicher sein.«
»Sicher? Inwiefern?«
Er antwortete nicht.
»Du denkst doch nicht etwa…?«
»Ich denke gar nichts.«
Die Tür wurde geöffnet, und Kirsten Lindstrom erschien mit einem Tablett, das sie auf den Schreibtisch stellte.
»Hier ist Ihr Tee, Mr Jackson. Soll ich Ihnen auch eine Tasse bringen, oder wollen Sie unten Tee trinken, Gwenda?«
»Ich komme hinunter, ich muss ohnehin die Briefe wegbringen.«
Sie nahm die Briefe mit leicht zitternden Händen vom Schreibtisch und verließ das Zimmer. Kirsten Lindstrom blickte ihr nach, dann wandte sie sich an Leo Jackson.
»Was haben Sie zu ihr gesagt? Warum ist sie so nervös?«
»Sie irren sich, ich habe nichts Besonderes zu ihr gesagt«, erwiderte Leo mit müder Stimme.
Kirsten Lindstrom zuckte die Achseln und verließ schweigend das Zimmer.
Leo spürte ihre Missbilligung, ihre unausgesprochene Kritik. Er lehnte sich seufzend in seinem Stuhl zurück, dann goss er sich eine Tasse Tee ein und vergaß, sie zu trinken. Er starrte ins Leere, während seine Gedanken zurück in die Vergangenheit wanderten.
Er hatte Rachel Konstam in einem Jugendklub kennen gelernt, im Arbeiterviertel des Londoner Ostens. Ihr Bild stand ihm klar vor Augen: Ein kräftig gebautes, mittelgroßes Mädchen, gut, aber solide gekleidet, ein Mädchen mit einem runden, ernsthaften Gesicht, dessen Warmherzigkeit und Naivität ihm sofort gefiel. Sie stürzte sich mit Enthusiasmus in die Sozialarbeit, sie fand es schön und lohnend, helfen zu können.
Für sie handelte es sich um »Fälle«, nicht um Menschen mit besonderen Eigenarten und Reaktionen. Schon damals bat er sie, nicht zu viel zu erwarten, aber sie hörte nicht auf ihn – sie erwartete immer zu viel, und sie wurde meistens enttäuscht. Er verliebte sich sehr bald in sie und stellte zu seiner angenehmen Überraschung fest, dass sie die Tochter reicher Eltern war.
Er war sich darüber klar, dass ihre hauptsächliche Anziehungskraft auf ihn in ihrer Gutherzigkeit bestand, und es war sein Unglück, dass ihre Wärme letzten Endes nicht für ihn bestimmt war. Natürlich liebte sie ihn, aber es war ihr Herzenswunsch, ihm Kinder zu gebären – und dieser Wunsch blieb
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