Tödlicher Irrtum
verlassen.«
22
N achdem Tina ihren Wagen vor der Friedhofsmauer geparkt hatte, ging sie mit ihren Blumen durch das Tor und über die breite Hauptallee. Sie mochte den neuen Friedhof nicht; sie wünschte, es wäre möglich gewesen, Mrs Jackson im Schatten der großen Eiben auf dem alten Friedhof zu begraben, der bei der Kirche lag.
Mrs Jacksons Grab war gepflegt, ein großes Granitkreuz überragte die Marmoreinfassung.
Mit ihren Nelken im Arm beugte sie sich über die Inschrift und las: »In liebendem Gedenken an Rachel Louise Jackson.«
Tina richtete sich auf, als sie hinter sich Schritte hörte.
»Micky!« rief sie erstaunt.
»Ich hab deinen Wagen draußen gesehen, und ich bin dir gefolgt, allerdings wollte ich sowieso auf den Friedhof gehen.«
»Du wolltest auf den Friedhof gehen, warum?«
»Ich weiß es selbst nicht, vielleicht nur, um Adieu zu sagen… weil ich die Stellung bei der Ölgesellschaft angenommen habe, von der ich dir erzählte. Ich werde England in etwa drei Wochen verlassen.«
»Wolltest du dich von Mutter verabschieden?«
»Ja, und vielleicht wollte ich mich auch bei ihr bedanken, sie um Verzeihung bitten.«
»Warum, Micky – oder besser: wofür?«
»Bestimmt nicht, weil ich sie ermordet habe! Denkst du wirklich, dass ich sie umgebracht habe, Tina?«
»Ich bin nicht ganz sicher.«
»Ich wünschte, du würdest mir glauben, Tina!«
»Aber warum möchtest du sie um Verzeihung bitten?«
»Mutter hat viel für mich getan«, sagte Micky langsam. »Ich war stets undankbar, nie habe ich ihr mal ein liebes Wort gesagt. Jetzt tut mir das Leid.«
»Wann hast du aufgehört, sie zu hassen? Nach ihrem Tod?«
»Ja, ich glaube.«
»Aber eigentlich hast du nicht Mutter Jackson gehasst, nicht wahr?«
»Nein, du hattest ganz Recht, Tina, mein Hass richtete sich gegen meine eigene Mutter, die ich glühend liebte und die sich nichts aus mir machte.«
»Hast du ihr inzwischen vergeben?«
»Ja, denn jetzt weiß ich, dass sie jung war und vergnügungssüchtig und nur die Männer und den Alkohol liebte. Also gut, sie hat sich nichts aus mir gemacht, jahrelang hat das an mir genagt, aber jetzt habe ich es überwunden.«
Er streckte eine Hand aus.
»Bitte, gib mir eine von deinen Nelken.«
Er nahm die Blume und legte sie auf den Grabstein.
»Das ist für dich, Mutter«, sagte er. »Ich war ein schlechter Sohn… du magst mich nicht immer ganz richtig behandelt haben, aber du hast es gut gemeint.«
Tina bückte sich und legte ihren Nelkenstrauß auf das Grab.
»Bringst du Mutter oft Blumen?«
»Ich besuche sie einmal im Monat«, erwiderte Tina.
»Liebe kleine Tina«, flüsterte Micky. Sie gingen gemeinsam dem Ausgang zu.
»Ich habe sie nicht ermordet, Tina, ich schwöre es dir.«
»Ich war an jenem Abend da«, sagte Tina.
Er starrte sie überrascht an. »Du warst im Sonneneck?«
»Ja, ich hatte die Absicht, eine neue Stellung anzunehmen, und wollte die Eltern vorher um Rat fragen.«
Sie machte eine Pause.
Micky ergriff sie beim Arm und sagte erregt: »Ja, und dann? Du musst mir die Wahrheit sagen, Tina!«
»Ich bin nicht bis vors Haus gefahren, sondern nur zu der kleinen Ausbuchtung, wo man leichter wenden kann. Dort parkte ich. Ich wusste nicht recht, was ich den Eltern sagen sollte. Du weißt, wie schwierig es manchmal war, Mutter etwas klarzumachen, und so ging ich zwischen Haus und Wagen auf und ab, um mir noch einmal gründlich zu überlegen, was ich sagen wollte.«
»Um wie viel Uhr war das?«, fragte Micky.
»An die genaue Zeit kann ich mich leider nicht mehr erinnern. Ich ging unter den Bäumen hin und her, ging leise und vorsichtig.«
»Mit leisen, vorsichtigen Schritten – wie ein kleines Kätzchen«, sagte Micky zärtlich.
»Plötzlich hörte ich zwei Leute miteinander flüstern.«
»Ja? Was sagten sie?«, fragte Micky erregt.
»Einer von ihnen sagte: ›Zwischen sieben und halb acht, vergiss das nicht, mach keinen Fehler! Zwischen sieben und halb acht.‹ Die andere Person flüsterte: ›Du kannst dich auf mich verlassen‹, worauf die erste Stimme antwortete: ›Und danach wird alles wundervoll sein, Liebling.‹«
Nach kurzem Schweigen sagte Micky: »Warum hast du das nicht schon längst gesagt?«
»Weil ich die Stimmen nicht gekannt habe«, erwiderte Tina.
»Aber es handelte sich doch bestimmt um einen Mann und eine Frau, nicht wahr?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Tina. »Wenn zwei Leute flüstern, kann man die Stimmen nicht recht erkennen. Natürlich
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