Tödlicher Mittsommer
unwillkürlich auf, dass er neulich eine ähnliche Unterhaltung mit Margit gehabt hatte.
Er blickte wieder auf den Brief und betrachtete ihn nachdenklich.
»Da tun sich zweifellos eine Menge Fragen auf. Es ist doch wirklich merkwürdig …«
Er verstummte und starrte auf den Brief.
»Was denn?«, fragte Carina.
»Dass es nicht den geringsten Hinweis gegeben hat. Nicht einmal den Hauch einer Andeutung vonseiten der Verwandtschaft. Nach allem, was passiert ist.«
»Das ist genau die Frage, die du stellen musst«, sagte Carina. »Aber es ist nicht gesagt, dass jemand von seiner Existenz wusste. Und sie schämten sich vermutlich. Damals war das ja ein handfester Skandal.«
»Das war es mit Sicherheit. Ein uneheliches Kind war in den Fünfzigerjahren nichts, was man an die große Glocke hängte«, sagte Thomas. »Na, jedenfalls wird unser Gespräch diesmal deutlich anders ausfallen, kann ich mir vorstellen.«
»Willst du schon heute Abend hinfahren?«, fragte Carina.
»Mal sehen.« Er unterdrückte ein Gähnen. »Das spielt keine große Rolle. Wir brauchen nicht zu befürchten, dass sich jemand Hals über Kopf aus dem Staub macht. Ist ja auch nicht gesagt, dass es heute Abend überhaupt geht.«
Mit einem müden Seufzer erhob er sich vom Sofa.
»Ich bin ziemlich erledigt«, sagte er. »Ich werde wohl nach Harö fahren, so wie ich es vorhatte. Dieses Gespräch kann ebenso gut bis morgen Vormittag warten.«
Er blickte noch einmal auf den handgeschriebenen Brief, bevor er ihn sorgfältig zusammenfaltete und in den Umschlag steckte.
[Menü]
Kapitel 70
Einen ganzen Abend ungestört sein.
Das Bedürfnis nach Alleinsein machte sich physisch bemerkbar. Der Körper forderte sein Recht. Nora wollte in aller Ruhe die Situation durchdenken. Einfach für sich sein, ohne sich verstellen oder irgendetwas erklären zu müssen.
Nach dem gestrigen Gespräch musste sie ihre Gedanken ordnen. Sich darüber klar werden, was sie selbst wollte.
Henrik würde nicht vor Mitternacht vom Vierundzwanzigstundentörn zurückkommen. Das gab ihr ausreichend Zeit, sich zu überlegen, was sie ihm sagen wollte, wenn er wieder da war.
Adam und Simon hatten von sich aus gefragt, ob sie bei Oma und Opa übernachten durften.
Ohne lange zu zögern, hatte sie es ihnen erlaubt.
Nora hatte die Schlafsachen der Jungs schon zu ihren Eltern gebracht, und nun war sie allein zu Hause. Es war erst kurz nach halb neun und immer noch hell draußen.
Sie hatte beschlossen, dass wenigstens ihr Magen seinen Frieden finden sollte, wenn schon ihre Gedanken nicht zur Ruhe kamen. Im Supermarkt hatte sie schönes Hähnchenfilet gekauft, es in Limettensaft und Sojasauce mariniert und anschließend im Backofen gegrillt. Sie hatte einen Couscous-Salat mit Avocado gemacht und dazu eine Sauce aus türkischem Joghurt, abgeschmeckt mit süßem Chili. Um sich richtig zu verwöhnen, hatte sie sich außerdem eine Tafel dunkle belgische Schokolade gekauft, ihre Lieblingssorte.
Natürlich musste sie sehr vorsichtig mit Süßigkeiten sein, wegen ihrer Diabetes, aber es gab Tage, da musste man sich einfach mal was gönnen.
Das hier war so ein Tag.
Sie würde sich vor dem Essen einfach eine kleine Extradosis Insulin spritzen, zumal sie am Vormittag beim Picknick auf Grönskär schon keine Ampulle dabeigehabt hatte. Die Schokolade würde von dieser Extradosis sicher mehr als aufgewogen werden. Und es hieß ja,dass dunkle Schokolade einen Stoff enthielt, der aufmunternd wirkte, wenn man traurig oder missgelaunt war. Das passte doch perfekt.
An diesem Abend war ihr auch ein künstlich herbeigeführtes Wohlbefinden recht.
Sie beschloss, den Tisch richtig schön zu decken, und stellte ein geschliffenes Kristallglas neben ihren Teller. Es sah ein bisschen übertrieben aus, aber für heute Abend fand sie es gerade richtig.
Nachdem sie alles vorbereitet hatte, öffnete sie den Kühlschrank. Die Ampullen mit dem Insulin standen an ihrem üblichen Platz auf der oberen Ablage.
Vorsichtig zog sie den Inhalt der ersten Ampulle auf und anschließend die Hälfte der zweiten Ampulle. Sie klopfte einige Male gegen die Spritze und stach die Nadel dann wie immer in die Bauchdecke unterhalb des Nabels. Direkt in die Fettschicht unter der Haut, um den bestmöglichen Effekt zu erreichen. Die leere Ampulle warf sie in den Mülleimer, die halb volle ließ sie vorläufig auf der Spüle stehen.
Nora stellte die Platte mit dem Hähnchenfilet auf den Esstisch und legte die neueste CD von Norah
Weitere Kostenlose Bücher