Tödlicher Mittsommer
zurück. Hinter ihnen verschwanden die Lichter der Insel im Kielwasser. Die vertrauten Häuser schrumpften zu kleinen Punkten, die sich nach und nach auflösten. Sie fragte sich, ob sie ihren Eltern nicht lieber hätte Bescheid sagen sollen, dass sie nach Grönskär hinausfuhr. Sie machten sich bestimmt Sorgen, wenn sie entdeckten, dass das Haus leer war. Aber es war ja nur eine kurze Fahrt. Sie würde bald zurück sein.
Wegen des Motorlärms war es nahezu unmöglich, sich zu unterhalten, deshalb konzentrierte sie sich darauf, das Boot zu steuern, das durch das spiegelglatte Wasser schoss. Bald hatten sie Telegrafholmen passiert und Björkö steuerbords umfahren. Schon nach zehn Minuten konnten sie Grönskärs markante Silhouette vor sich sehen.
Es roch frisch nach Meer und Tang. In der Ferne sahen sie das eine oder andere Segelboot, das noch keinen Hafen für die Nacht angesteuert hatte. Richtung Süden würden bald Svängen und Revengegrundet, die Leuchtfeuer am Beginn des Fahrwassers nach Sandhamn, zu blinken beginnen.
Sie näherten sich Grönskär, und Nora beschloss, am Kai unterhalb des Leuchtturms festzumachen, statt den flachen Kleinboothafen anzulaufen. Besser, sie ging kein Risiko ein. Sie hatte keine Lust, das Boot womöglich im Halbdunkeln aus dem Schlick manövrieren zu müssen.
Als sie den Kai fast erreicht hatten, stellte Nora den Motor ab. Der Schwung trug das Boot das letzte Stück vorwärts.
Der Kai bestand aus einem rechteckigen Betonblock, der aus den Klippen ein Stück ins Meer ragte, mit zwei Eisenringen an jeder Seite. Rasch machte Nora das Boot mit einem Roringknoten fest, zwei halbe Schläge um die eigene Part, so wie ihr Großvater es ihr beigebracht hatte, als sie noch klein war. Sie hatten immer Reserveleinen im Boot, für den Fall, dass sie irgendwo festmachen mussten.
Sie strich die Haarsträhnen zurück, die der Fahrtwind aus ihrem Pferdeschwanz gezerrt hatte, und wandte sich an Signe.
»Wenn du willst, kannst du hier warten«, sagte sie. »Dann laufe ich schnell rauf und suche.«
Signe schüttelte nachdrücklich den Kopf.
»Kommt nicht in Frage, ich gehe selbstverständlich mit. Du sollst um diese Tageszeit nicht allein in den dunklen Turm hochsteigen müssen.«
Nora lächelte sie an. Wenn sie ehrlich sein sollte, war sie richtig froh, dass Signe mitgekommen war und sie nicht allein auf Grönskär herumlaufen musste.
»Gut, also los.«
»Wie willst du reinkommen?«
»Ich weiß, wo der Reserveschlüssel ist. Aber ich glaube, ich habe das Handy irgendwo draußen verloren. Ich muss wohl einfach suchen. Wer suchet, der findet, nicht wahr?«
Die Felsen an der Kaimauer waren glitschig vom Abendtau. Flechten überzogen die Klippen wie ein graugrüner Teppich. Nora passte genau auf, wo sie hintrat. Man konnte leicht ausrutschen, und ein verstauchter Knöchel hätte ihr jetzt gerade noch gefehlt.
Während sie an Land stieg, musste sie an das alte Märchen von Rapunzel denken, der schönen Jungfrau mit dem langen Haar, die eingesperrt in einem Turm saß. Sie wurde von einem Königssohn gerettet, nachdem sie ihr langes Haar herabgelassen hatte, sodass er daran hinaufklettern und sie befreien konnte.
Ein Schauer lief Nora über den Rücken. Der Leuchtturm von Grönskär war kein Ort, an dem sie gerne eingesperrt wäre, egal ob mit langem oder kurzem Haar.
Mit vorsichtigen Schritten näherten Nora und Signe sich dem Turm. Man merkte Signe nicht an, dass sie auf die Achtzig zuging. Sie war gelenkig und sehnig und überquerte das unebene Gelände mühelos. Wie überall im äußeren Schärengarten war die Vegetation spärlich. Niedrige, windgepeitschte Kiefern, hier und dort eine Birke.
Nora überlegte angestrengt, wo und wie sie genau um den Turm herumgegangen war, während sie telefonierte. Als sie Thomas anrief, hatte sie direkt neben dem Eingang gestanden. Wie üblich war siedann im Laufe des Gesprächs auf und ab gegangen. Also musste das Handy irgendwo in der Nähe des Turms sein.
Sie suchte das Gestrüpp rund um den Turm ab, konnte aber in der hereinbrechenden Dunkelheit kaum etwas erkennen. Die Taschenlampe half auch nicht viel. Sicherheitshalber ging sie noch mal den Weg zwischen dem Leuchtturm und dem kleinen Haus mit dem Museum ab, fand aber nichts.
Vielleicht hatte sie das Handy doch im Turm verloren.
Kurz vor der Rückfahrt am Vormittag war sie noch ein letztes Mal mit Adam hinaufgestiegen. Sie hatten sich beeilen müssen, und vielleicht war ihr dabei das Handy
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