Tödlicher Mittsommer
zu.
Sie lächelte ihn automatisch an.
Nach all den Jahren, in denen sie Fremde am Casinotisch begrüßt hatte, verzogen sich ihre Lippen ohne das geringste Zögern.
Der Typ sah ganz nett aus, um die vierzig, schätzte sie. Schlank, das blaue T-Shirt und die Jeans verwaschen, Turnschuhe an den Füßen. Die Haare hätten einen Schnitt gebraucht, wirkten aber sauber.
Plötzlich hatte sie Lust auf ein wenig Gesellschaft. Als ihre Blicke sich trafen, feuchtete sie die Lippen an und öffnete den Mund.
»Du kannst dich gerne hierhersetzen«, sagte sie und zeigte auf den Stuhl ihr gegenüber. Sie lächelte einladend, während er sich setzte.
»Wohnst du hier?«, fragte sie.
Er blickte von seinem Bier auf und nickte.
»Mhmm, ich habe hier ein Haus.«
»Ein Ferienhaus?«
»Nein, ich wohne ständig hier. Ich bin auf der Insel geboren. Habe mein Leben lang hier gewohnt«, fügte er hinzu und führte das Glas an die Lippen.
Kicki rückte ein Stück näher heran.
»Ich heiße Kicki.«
»Jonny.«
Er streckte die Hand wie zur Begrüßung aus, überlegte es sich aber anders und nickte stattdessen.
»Was machst du beruflich?«, wollte Kicki wissen.
»Alles Mögliche. Eigentlich bin ich Tischler, aber ich male auch. Und ich helfe den Sommergästen bei diesem und jenem.«
Er trank einen ordentlichen Schluck und wischte sich den Mundmit dem Handrücken ab. Als er das Bierglas absetzte, schwappte ein wenig heraus, aber das schien ihn nicht weiter zu stören.
»Was malst du denn?«
Kicki war interessiert. Sie brauchte etwas, um ihre Gedanken eine Weile abzulenken. Außerdem war sie neugierig auf das Inselleben.
»Verschiedenes. Überwiegend Naturmotive.«
Er lächelte verlegen. Dann zog er einen Bleistift aus der Gesäßtasche und griff nach einer Serviette, die auf dem Tisch lag.
Mit kurzen, schnellen Bewegungen hatte er Kickis Profil skizziert. Es waren nur wenige Striche, aber die Ähnlichkeit war trotzdem verblüffend. Es war ihm gelungen, sowohl ihre Gesichtszüge als auch den Ausdruck einzufangen. Innerhalb weniger Sekunden.
Er schob die Zeichnung zu ihr herüber. »Bitte. Kannst du behalten.«
»Du bist ja richtig gut«, sagte Kicki beeindruckt. »Kannst du davon leben?«
»Eher nicht. Im Sommer lohnt sich das Handwerkliche mehr. Es gibt immer etwas, was repariert werden muss, und wenn die Leute im Urlaub sind, haben sie keine Lust, den Kram selbst zu erledigen. Außerdem zahlen sie gut, schwarz natürlich, aber das ist okay. Was soll man mit einer Rechnung?«
Er lächelte schief, um seine Worte zu unterstreichen.
Eine blonde Kellnerin näherte sich mit Kickis Kartoffelpfanne. Sie stellte den Teller auf den Tisch und reichte ihr Messer und Gabel, eingeschlagen in eine Serviette. Es sah richtig appetitlich aus, mit einem Spiegelei an der Seite und reichlich Roter Bete.
Die Kellnerin griff routiniert nach Kickis leerem Glas und sah die beiden freundlich an.
»Darf es noch was sein?«
Kicki blickte ihr Gegenüber an. Er wirkte sympathisch, ein bisschen schüchtern, aber nicht uninteressant, überhaupt nicht. Er hatte etwas von einem jungen Hund an sich, das ihr gefiel.
Sie beugte sich vor, strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und zwinkerte ihm kokett zu.
»Gibst du mir ein Bier aus? Du könntest mir erzählen, was man an einem Freitagabend im Hochsommer auf Sandhamn so macht. Ich bin zum ersten Mal hier.«
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Kapitel 15
Es war das, was Nora einen perfekten Sandhamnsabend zu nennen pflegte.
Aus den Gärten ringsherum hörte man das Lachen der Nachbarn, die ebenfalls ihr Abendessen im Freien genossen.
Von weither klangen vereinzelte Töne herüber, Dinah Washington sang »Mad about the boy«. Davon abgesehen war es so still, dass man das Summen der Hummeln hören konnte, und die Schwalben flogen hoch am Himmel, ein gutes Zeichen für ein beständiges Hoch. Fast neun Uhr abends, aber die Luft war immer noch angenehm warm. Die Fischfilets hatten perfekt geschmeckt, und die Stimmung war bestens.
Als sie zum Dessert übergingen, kam das Gespräch auf den toten Mann am Strand.
»Wie kommt ihr mit den Ermittlungen voran?«, fragte Henrik.
»Tja«, sagte Thomas. »Sieht so aus, als wäre kein Fremdverschulden im Spiel gewesen. Vermutlich ein Unglück. Vielleicht ist er von Bord einer Finnlandfähre gefallen. Sie kommen ja jeden Abend hier vorbei.« Er nahm ein Stück Rhabarberkuchen, ehe er fortfuhr. »Er war ein einsamer Mensch. Keine Familie, die Eltern tot, keine Freunde, so weit wir
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