Tödlicher Mittsommer
was nachsehen«, rief sie den Jungs zu. »Ich komme gleich.«
Sie watete ein Stück ins Wasser hinein, aber durch die grelle Sonne, die sich auf der Oberfläche spiegelte, war es schwierig, etwas zu erkennen. Sie versuchte, die Augen mit den Händen zu beschatten, während sie weiterging. Das Licht war so stark, dass es sie blendete, wie sehr sie die Augen auch zusammenkniff. Nach kurzer Zeit war sie gut dreißig Meter vom Strand entfernt. Inzwischen konnte sie mehr als eine undeutliche Kontur erkennen.
Dann sah sie, was es war.
Erschrocken schlug sie die Hand vor den Mund.
»Das ist doch nicht möglich«, flüsterte sie vor sich hin. »Nicht schon wieder.«
Sie holte tief Luft und ging vorsichtig näher heran. Vor ihr trieb ein Mann mit dem Gesicht nach unten im Wasser. Er trug Jeans und T-Shirt und hatte braune, ziemlich lange Haare.
Sie konnte nicht erkennen, ob er tot war, aber sie lief weiter ins Wasser hinein, so schnell sie konnte.
An dem Körper angekommen, griff sie nach seinem Arm. Es war ein merkwürdiges Gefühl, ihn anzufassen, aber es ging erstaunlich leicht, den Körper umzudrehen. Als er auf dem Rücken lag, erkannte sie ihn sofort.
Jonny Almhult, Ellens Sohn.
Jonny, der ihren Zaun repariert hatte und nur ein Stück von ihnen entfernt wohnte.
Nora spürte, wie ihr der kalte Schweiß auf die Stirn trat. Es war das erste Mal, dass sie einen Toten berührt hatte. Sie kam sich vor wie im Film, aber das hier war Realität.
Sie unterdrückte einen Impuls, sich zu erbrechen, und biss sich fest auf die Lippe. Jonnys Leiche musste an den Strand, so viel war klar. Die Polizei musste so schnell wie möglich kommen.
Sie sah rasch zu Adam und Simon hinüber. Die beiden spielten und schienen sich nicht darum zu kümmern, was sie machte.
Sie durften den Toten nicht sehen.
Nora versuchte, ein paar Leute vom Strand herbeizuwinken, damit sie ihr halfen, aber niemand schien Notiz von ihr zu nehmen. Um die Kinder nicht zu erschrecken, verzichtete sie darauf zu rufen. Stattdessen packte sie Jonny am T-Shirt und begann, ihn Richtung Strand zu ziehen. Das ging schwerer als erwartet, sie musste sich ziemlich anstrengen. Schon nach wenigen Minuten taten ihr die Arme weh.
Unter Aufbietung aller Kräfte schleppte sie den Körper auf den Strand zu, so weit weg von den Kindern, wie es irgend ging. Als er endlich am Wassersaum lag, liefen ihr Schweiß und Tränen übers Gesicht.
»Nicht herkommen«, rief sie ihren Söhnen zu und winkte abwehrend mit den Händen. »Bleibt schön da.«
Sie rannte zu ihrer Tasche und holte das Handy heraus. Dann wählte sie hastig Thomas’ Mobilnummer.
»Thomas, hier ist Nora, ich bin am Trouvillestrand. Ich habe gerade eben Jonny Almhult gefunden. Er schwamm auf dem Wasser. Wie ein Holzpfahl. Er ist tot.«
Sie brach in ein hysterisches Kichern aus und kniff sich in den Arm, um aufhören zu können.
»Entschuldige. Es war einfach so gruselig. Ich bin mit den Jungs hier. Ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll.«
Die letzten Worte gingen in einem Schluchzen unter. Ihr war schwindelig, sie konnte sich kaum auf den Beinen halten.
Thomas’ vertraute Stimme war eine Erleichterung. Es war das erste Mal, dass sie ihn in seiner beruflichen Funktion erlebte. Allein schon, dass sie mit ihm redete, ließ sie ruhiger werden.
»Nora. Hör mir gut zu. Langsam atmen. Du bist kurz davor, zu hyperventilieren, du musst dich beruhigen.«
»Okay.«
Nora hörte ihre eigene Stimme wie aus der Ferne. Sie klang dünn und atemlos.
»Setz dich hin, auf den Sand. Wird dir schwarz vor Augen?«
»Ich weiß nicht«, sagte Nora kläglich.
»Beug den Kopf nach vorne und versuch, nicht so schnell zu atmen.«
Nora tat, was er sagte, und nach kurzer Zeit fühlte sie sich etwas besser.
»Bleib da, bis ich komme«, sagte Thomas. »Schaffst du das?«
»Ich will es versuchen.«
»Ich bin schon im Ort, ich muss mir nur ein Fahrrad leihen. Du schaffst das, ich weiß es. Bleib ganz ruhig. Ich bin gleich da.«
Nora zog die Beine unter den Po und spürte den warmen Sand auf der Haut. Es war ein unwirkliches Gefühl, nur ein paar Meter entfernt den toten Körper zu sehen.
Sie bemerkte, dass Adam unruhig in ihre Richtung schaute. Er dachte sicher, dass sie eine akute Unterzuckerung hatte. Aber besser das, als wenn er mitbekam, was wirklich passiert war.
Sie winkte matt in seine Richtung.
»Spielt weiter«, rief sie. »Ich komme gleich.«
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Kapitel 32
Am Nachmittag wurde Jonny Almhults Leiche in
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