Tödlicher Ruhm
Hausbewohner wusste, wo sich die Kameras befanden. Und wer dort in die Toilette platzte, wusste genau, dass sich die einzige Kamera, die ihn erfassen konnte, oberhalb der Tür befand. Als er hineintrat, hob er das Tuch mit beiden Händen über seinen Kopf, wobei in einer davon das Messer deutlich zu erkennen war. Zweifellos hatte Kelly überrascht aufgeblickt, doch es war unmöglich, ihren Gesichtsausdruck in diesem Augenblick auszumachen, da sich das Tuch über und hinter dem Mörder aufspannte und beide vor dem Blick der Kamera verbarg.
Im nächsten Moment schien das Tuch vor den Augen von Geraldine und ihrem Team auf Kelly herabzusinken. Dies war, so sollte sich herausstellen, der erste Hieb. Der Messerstich in ihren Hals.
In der Monitorbox hielt man es nach wie vor für einen Scherz. Sie hatten keinen Grund, etwas anderes anzunehmen.
»Was macht der Pisser da?«, fragte Geraldine, als das Tuch erneut aufwehte, bevor es wieder hinabstieß.
29. Tag 20:30 Uhr
»Ich schätze, er wollte eigentlich nur einmal zustechen«, sagte Coleridge. »Schließlich durfte er nicht riskieren, blutig zu werden.«
»Gar nicht so einfach, wenn man gerade jemanden ersticht.«
»Nur ein Stich, mitten ins Gehirn. Sofort tot.«
»Und keine Blutfontäne.«
»Ganz genau, aber das Mädchen muss wohl den Kopf bewegt haben, und deshalb hat er den Hals getroffen.«
»Zum Glück nicht die Halsschlagader.«
»Nein, nicht die Halsschlagader. Er hat nichts abbekommen, wenn auch nur knapp.«
»Da hat er aber echt Schwein gehabt.«
Dem konnte Coleridge nur zustimmen. Der Mörder hatte tatsächlich Schwein gehabt.
»Ich würde sagen, nur ein Mann könnte einen solchen Hieb ausführen, und ein kräftiger noch dazu«, fuhr Hooper fort.
»Stimmt nicht. Das haben wir bewiesen«, hielt Trisha ein wenig ungeduldig dagegen. Sie hatte einen eher unerfreulichen Nachmittag damit verbracht, in der Schlachterei um die Ecke Messer in Schweinsköpfe zu stoßen.
»Ich weiß, dass eine Frau es hätte tun können, aber wie groß wäre das Risiko gewesen?«, beharrte Hooper. »Wenn das Messer beispielsweise im Schädelknochen stecken bleibt... das ist bei den Schweinen passiert, Trish. Bei der Hälfte deiner Versuche. Außerdem braucht man enorm viel Kraft, und ein Küchenmesser hat keine Parierstange. Du hast Handschuhe getragen, und trotzdem bist du immer wieder mit der Hand abgerutscht. Was, wenn es ihr so gegangen wäre? Sie hätte sich selbst die Finger abgeschnitten. Kelly hätte nach dem Tuch gegriffen. Alles wäre schief gegangen. Die Chance, dass einer Frau ein solcher Hieb gelingt, ist doch gering.«
»Bis auf Sally«, sagte Coleridge. Die große, fleischige Sally. Die Lieblingsmörderin des Internets.
»Warum um alles in der Welt sollte Sally Kelly ermorden wollen?«, sagte Trish etwas vorschnell.
»Warum sollte das irgendjemand wollen?«, erwiderte Coleridge. »Mit Sicherheit lässt sich nur sagen, dass jeder von ihnen es hätte tun können. Der Mörder war Rechtshänder wie alle anderen Hausbewohner. Trotzdem ist es wahrscheinlicher, dass einer der Kräftigeren es getan hat, muss ich einräumen. Wahrscheinlich ein Mann.«
Alle drehten sich wieder zum Bildschirm um. Die Gestalt hatte die Tür um 23:44 Uhr und neunundzwanzig Sekunden aufgerissen. Zum ersten Hieb war es zweieinhalb Sekunden später gekommen, zum nächsten und letzten zwei Sekunden danach. Insgesamt war der Mörder alles in allem keine zehn Sekunden im Toilettenraum gewesen.
»Wenn nicht alles so verdammt kaltschnäuzig abgelaufen wäre«, sagte Coleridge, »hätte ich gesagt, das Ganze war ein Wutanfall.«
Das Band lief weiter. Offenbar hatte der Mörder zwei Tücher vom Stapel genommen, als er aus dem Schwitzkasten getreten war, denn als er sich nun für den zweiten Hieb aufrichtete, warf er eines der Tücher über sein Opfer. Das andere hielt ihn nach wie vor bedeckt, als er die Toilette verließ.
»Und Sie haben mit dem zuständigen Kameramann gesprochen, Constable?«, erkundigte sich Coleridge.
»Ja, das habe ich«, antwortete Trish, »sehr ausführlich. Sein Name ist Larry Carlisle. Er hat gesehen, wie die verhüllte Gestalt die Toilette betreten und kurz danach wieder verlassen hat.« Trisha nahm ihre Notizen und zitierte aus dem Vernehmungsprotokoll des Kameramanns:
»Ich habe gesehen, wie dieser Jemand dem Opfer etwa zwanzig Minuten vor Mitternacht in die Toilette gefolgt ist. Kurz darauf ist er wieder rausgekommen und durch den Wohnbereich zum Jungenzimmer
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