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Tödlicher Staub

Tödlicher Staub

Titel: Tödlicher Staub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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werden Sie für immer im Ohr behalten. Callas hin, Tebaldi her … so süß wie Natalja kann keine andere singen.«
    Der erste Akkord schien die Zuhörer bereits zu verzaubern. Nach einem kurzen Vorspiel begann Natalja zu singen, ein altes Liebeslied aus Nowgorod von einem Mädchen, das träumte, ein Prinz hole sie aus der Armut in sein Schloß. Niemand verstand die russische Sprache, aber jeder spürte die Sehnsucht in der Stimme und begriff, daß die Weite des Landes den Menschen demütig und gleichzeitig sehnsüchtig machte.
    Fulton starrte sie mit angehaltenem Atem an, und als ihre Blicke sich trafen, war es, als träfen zwei Blitze aufeinander und zerplatzten in der Luft, aber ihre Hitze durchdrang ihre Körper.
    Fast eine halbe Stunde lang sang Natalja von der Steppe und den Seen Sibiriens, von den unendlichen Wäldern und den großen Strömen, von Wind und Sonne und von den Menschen, die das Glück berührten, wenn sie Rußlands Erde in den Händen hielten. Den Schluß bildete ein Ostergesang, so wie er seit Jahrhunderten ertönte, wenn der Pope das Osterbrot segnete. Christos woskresse … Christus ist auferstanden.
    Nach diesem letzten Lied wagte keiner zu klatschen, nur Fulton unterbrach die Stille, indem er »Bravo!« rief. Ducoux sah ihn ärgerlich von der Seite an.
    Typisch amerikanisch. Kein Gefühl für die Heiligkeit der Kunst. Ihre Götter sind Coca-Cola und Hot dogs und Hamburger in einem matschigen Brötchen. Bob, du bist ein Banause.
    Nach diesem Zuruf schienen alle aus einer Art Erstarrung zu erwachen und bedachten Natalja mit stürmischem Beifall. Sie dankte mit einem tiefen Knicks und eilte dann die Treppe hinauf. Niemand sah, daß sie Tränen in den Augen hatte, nicht weil Fulton ›Bravo‹ gerufen hatte, sondern weil bei jedem Lied ihr Heimweh wuchs, stärker und stärker wurde … ein Russe in der Fremde ist immer einsam und voller Sehnsucht. Rußland, das ist die Mutter allen Lebens.
    »So etwas hören Sie nie wieder«, sagte Ducoux zu Fulton.
    »Ich stimme Ihnen zu. Es war einmalig. Ist Natalja eine bekannte Sängerin?«
    »Nein. Es ist eine Naturbegabung, das macht sie unverwechselbar. Denken Sie an die Piaf. Auch sie konnte von keiner anderen Sängerin überboten werden … sie sang mit ihrem ganzen Herzen und hatte sich selbst ausgebildet in den Hinterhöfen von Saint-Germain-de-Près.«
    »Natalja könnte mit dieser Stimme eine Weltkarriere machen. Irgendein Impresario sollte sie managen.«
    »Um Gottes willen – nein! Dann wird sie eine Singmaschine und in Massenveranstaltungen verheizt. Es gibt genügend Beispiele dafür, daß große Stimmen zerbrachen, weil sie nicht sorgsam gehütet wurden.«
    »Ich bin erstaunt, Jean.«
    »Worüber?«
    »Sie sind nicht nur ein guter Polizist, sondern auch ein großer Musikliebhaber. Was möchten Sie lieber sein?«
    »Das, was ich bin. Darf ich Ihnen etwas sagen … unter Freunden?«
    »Ich höre.«
    »Ihr Bravoruf hat mich gestört. Es war eine Frechheit.«
    »Ich konnte nicht anders, Jean.« Fulton legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich war einfach hingerissen. Verzeihen Sie mir. Da bricht mein italienisches Blut durch: Wenn wir begeistert sind, dann brüllen wir los. Besuchen Sie mal eine Oper in der Arena von Verona …«
    Auf der Treppe erschien Natalja. Sie trug jetzt wieder ihr hautenges Silberkleid und schritt die Stufen unter dem Beifall der Gäste hinunter. Madame lief ihr entgegen, umarmte sie, drückte sie an sich und küßte sie auf beide Wangen.
    »Du hast geweint«, sagte sie. »Ich habe es gesehen und in deiner Stimme gehört.«
    Natalja schüttelte den Kopf, aber sie tat es zu heftig und bestätigte damit Madames Beobachtung. »Es war bestimmt nur wegen des traurigen Liedes vom einsamen Jäger … das klingt, als wenn jemand weint.«
    »Jeder würde dir das glauben, nur ich nicht.« Madame zog Natalja zur Seite in eine Ecke, wo sie ungestört sprechen konnte. »Hast du Heimweh?«
    »Auch das.« Natalja senkte den Kopf. Ist es Heimweh, fragte sie sich, oder ist es das Leben, das ich führe? Was bin ich denn? Die Geliebte eines reichen Mannes, der jeder Wunsch erfüllt wird und die mit ihrem Körper bezahlt, eines Mannes, der auch noch der Chef einer Verbrecherbande ist, die immer mehr zum wirklichen Herrscher über Rußland wird. Ist das ein Leben, dem man nachweinen sollte? Nein! Ich bin noch jung, ich habe eine Zukunft … aber wie wird sie aussehen? Was wird in zehn, zwanzig Jahren sein? Eine weggeworfene Geliebte in einer

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