Tödlicher Staub
uns helfen. Sie arbeitet ahnungslos für uns, indem sie stillschweigend diesen Brockler aus dem Verkehr zieht. Die Gewinner sind wir!«
Der anonyme Hinweis auf zwanzig Gramm Plutonium wurde beim Bundesnachrichtendienst in München-Pullach sehr ernst genommen. Es trafen täglich viele anonyme Anzeigen ein, die meisten stellten sich als faule Eier heraus, aber wenn von Atomschmuggel die Rede war, wurden die Geheimdienstler hellhörig.
Sofort nach dem Anruf wurde das BKA alarmiert, das seinerseits alle Landeskriminalämter informierte. Ein riesiger Polizeiapparat stand bereit, Freddy Brockler zu empfangen.
An der Grenze bei Guben, das zu DDR-Zeiten Wilhelm-Pieck-Stadt hieß, wurde der MAN-Laster kontrolliert, die Papiere von Brockler waren einwandfrei, die Beamten des Bundesgrenzschutzes wickelten höflich die Formalitäten ab und gaben Freddy freie Fahrt. Vor sich hinpfeifend ging Brockler zu seinem Zehntonner zurück und fuhr Richtung Deutschland über die Grenze.
»Er ist da!« sagte der diensthabende Offizier des Bundesgrenzschutzes. »Wir haben ihn weisungsgemäß nicht festgehalten. Er fährt auf der Straße von Guben nach Cottbus. Möglich, daß er nach Dresden will. Macht's gut, Kollegen.«
Von dieser Stunde an wurde Brockler ununterbrochen beobachtet. Er wurde weitergereicht, von Polizeistelle zu Polizeistelle. Vom BKA war der Befehl gekommen: in Ruhe lassen, ihm unauffällig folgen, nur observieren. Wir müssen feststellen, wo seine Endstation ist.
Brockler fuhr tatsächlich nach Dresden. Dort übernachtete er auf einer Raststätte bei Radebeul und ahnte nicht, daß seine beiden Tischnachbarn im Restaurant Beamte des Dresdener LKA waren. Im Gespräch stellte sich heraus, daß Freddy Kölner war – mit rheinischem Humor, gesellig und trinkfest.
»Radebeul –«, sagte er lachend zu den beiden Kumpels am Tisch. »Da hat Karl May gelebt. Den habe ich als Junge gefressen. Den hatte ich immer bei mir. Und nachts habe ich ihn unter der Bettdecke mit der Taschenlampe gelesen. Jetzt lese ich Konsalik.«
»Auch unter der Bettdecke?«
Sie lachten schallend und verabschiedeten sich als Freunde.
Am nächsten Tag fuhr Brockler weiter mit dem Ziel Frankfurt/Main. Über Chemnitz und vorbei an Gera, Jena, Weimar, Erfurt, Gotha, Eisenach, Fulda. Und überallhin folgten ihm unauffällige Wagen. Im BKA in Wiesbaden saß Oberrat Wallner vor einer Straßenkarte und verfolgte Brocklers Weg, der ihm telefonisch von den observierenden Beamten durchgegeben wurde.
»Eine Affentour –«, sagte er kopfschüttelnd. »Erst der Transport von Tomsk nach Moskau, dort Übernahme des Plutoniums und dann quer durch Europa – wohin, das werden wir bald wissen. Das geht doch bequemer per Flugzeug! Ich habe da so eine Ahnung, daß wir den dicken Hund noch nicht gefangen haben …«
»Vielleicht ist Köln das Ziel?« schlug Kriminalkommissar Berger vor. Er war in den vergangenen zwei Jahren zur rechten Hand seines Chefs avanciert.
»Das wäre zu schön! Dann haben wir ihn gleich hier. Jungs, ich bin gespannt wie beim Spiel vom 1. FC Köln gegen die Bayern.«
Und Freddy Brockler fuhr tatsächlich nach Köln.
Bevor das BKA bei Freddy zugriff, hielt Wallner eine große Informationskonferenz ab. Sie fand im Beisein des Präsidenten statt. Kriminaloberrat Wallner hatte sich gut vorbereitet … er schleppte eine dicke Aktentasche in das Sitzungszimmer und legte einen Stapel Akten auf den Tisch.
»Ich habe Sie hierhergebeten«, begann er sein Referat, »um Ihnen einen umfassenden Überblick über die Szene des Nuklearschmuggels zu geben. Seit dem Bekanntwerden dieses neuen Bereichs der Kriminalität vor zwei Jahren – damals wurde uns der Täter, der Pole Londricky, vor der Nase ermordet, kein Ruhmesblatt für uns! –, hat sich der Handel mit atomarem Material nur zögernd entwickelt … soweit uns dies bekannt wurde. Spektakuläre Fälle hat es nicht gegeben, was verblüffend ist. Immerhin aber ist ein deutlicher Anstieg des Atomdeals zu bemerken. Waren es in Deutschland 1991 einundvierzig Fälle, wuchs 1992 die Zahl auf hundertachtundfünfzig an. Bis heute, 1993, sind allein in Bayern vierzig Fälle bekannt geworden … es scheint so, als ob Bayern eine beliebte Drehscheibe geworden ist. Die Abteilung 633 im Dezernat VI steht – zusammen mit der Abteilung 632 – in einer aufregenden Ermittlungs- und operativen Phase gegen die organisierte Kriminalität. Die Kollegen vom LKA München sind darüber durchaus nicht erfreut, trotz aller
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