Tödlicher Staub
… und was ist aus mir geworden? Sybins Geschöpf … eine Geschäftshure.
Natalja Petrowna, du bist ein Vogel mit gebrochenen Flügeln …
Vier Tage nach Nataljas Anruf bei Dr. Sendlinger traf Sybins Bote in Berlin ein: ein kleiner, dicker Mann mit lichtem Haar, aber einem gewaltigen Schnauzbart und stechendem Blick. Er kam zu Dr. Sendlinger in die Kanzlei, am späten Abend, als kein Mandant mehr wartete. Sendlinger arbeitete noch eine Akte durch, ein Prozeß, der morgen begann; eine Klage wegen eines ärztlichen ›Kunstfehlers‹. Bei einer harmlosen Blinddarmoperation hatte der Chirurg einen Mulltupfer im Bauchraum vergessen. Eine unangenehme Sache. Die Versicherung des Arztes verweigerte eine Entschädigung und Schmerzensgeld. Es würde zu einem Gutachterstreit kommen, obwohl die Sachlage klar war. Versicherungen kassieren gern Prämien, aber sie zahlen nur ungern Entschädigungen. In den USA würde daraus, anders als in Deutschland, eine Millionenklage werden.
Dr. Sendlinger öffnete selbst die Tür und ließ den kleinen Dicken eintreten.
»Eigentlich ist die Kanzlei schon geschlossen«, sagte er. »Aber kommen Sie herein. Worum handelt es sich?«
»Ich bin Nilin, Burjan Alexandrowitsch Nilin. Pelzhändler aus Hamburg.«
Er sprach ein gutes Deutsch, fast akzentfrei. Dr. Sendlinger blickte auf den Kleinen hinunter. Pelzhändler, schon wieder ein Schadensfall. Aus Hamburg. Was will er bei mir in Berlin?
Er zeigte auf einen Lederstuhl, aber Nilin blieb stehen.
»Mein Freund Sybin schickt mich«, sagte er.
Dr. Sendlinger spürte in sich so etwas wie einen elektrischen Schlag. Das ist er, das ist der Bote mit den Plutoniumproben! Da steht so ein kleiner, dicker, schnauzbärtiger Mann herum und hat Millionen in der Tasche.
»Aber setzen Sie sich doch, Herr Nilin!« rief Dr. Sendlinger. »Ich habe Sie erwartet. Das heißt, ich wußte nicht, wer kommen würde, nur daß jemand kommt.«
»Ich möchte nur etwas abliefern.« Nilin öffnete seine dicke Aktentasche. Dr. Sendlinger spürte ein Kribbeln auf seiner Kopfhaut. In einer Aktentasche schleppt er Plutonium herum, als wolle er Fellproben vorführen. Einfach so, in einer Aktentasche, einer ganz normalen Aktentasche. Diese Russen …
Nilin packte aus und legte alles auf Dr. Sendlingers Schreibtisch. Sieben kleine Päckchen, umhüllt mit Lappen aus Karakulfell. Dr. Sendlinger trat unwillkürlich zwei Schritte von seinem Schreibtisch zurück.
»Das haben Sie so transportiert?« fragte er heiser.
Nilin sah ihn an, als suche er nach dem Sinn dieser Worte.
»Ja«, antwortete er ein wenig verwirrt, »dies war der sicherste Weg. In Moskau kennt mich der Zoll, ich importiere viele Pelze nach Deutschland, vor allem von den Pelzauktionen in Petersburg. Alles läuft bei mir über Moskau, dort habe ich gute Freunde, deshalb werden meine Kartons nicht kontrolliert … die Frauen der Zöllner tragen alle Mäntel aus meiner Kollektion. Es war einfach, die Kästchen hier zwischen den Fellen zu verstecken und ins Flugzeug zu bringen.«
»Mein Gott! Und wenn das Flugzeug abgestürzt wäre? Wenn die Behälter bei dem Aufprall geplatzt wären? Können Sie sich diese weltweite Katastrophe vorstellen?«
»Ich bin mit der deutschen Lufthansa geflogen.« Nilin lächelte Dr. Sendlinger an. »Ein Lufthansa-Flugzeug stürzt selten ab. Ich vertraue der deutschen Gründlichkeit bei der Wartung der Maschinen. Ich fliege nur mit Lufthansa.«
Dr. Sendlinger starrte auf die sieben Päckchen. Sie waren ihm, trotz seiner Erfahrung mit radioaktiven Stoffen, unheimlich. Das erste reine, waffenfähige Plutonium, das er in Händen hatte: der millionenfache Tod auf seinem Schreibtisch.
»Hatten Sie Auslagen, Herr Nilin?« fragte er mit schwerer Zunge.
»Nein. Alles ist bereits von Igor Germanowitsch bezahlt worden. Ich habe daran mehr verdient als mit hundert Pelzmänteln. Außerdem hat er für Natalja Petrowna einen Kronenzobelmantel gekauft. Das Teuerste, was es gibt! Keine Zuchtzobel, sondern in den sibirischen Wäldern gefangene Tiere.« Nilin strahlte über das ganze Gesicht, sein gewaltiger Schnauzbart zitterte vor Freude. »Sybin hat mich gebeten, weiter für ihn tätig zu sein. Ich fahre öfter hin und her … Moskau-Hamburg-Moskau. Da kann ich allerlei mitnehmen.«
»Gratuliere.« Dr. Sendlinger ging zu seinem geschnitzten Schrank, dem Prunkstück seines Büros, und schloß ihn auf. »Was kann ich Ihnen anbieten, Herr Nilin? Kognak, Whisky, Aquavit, Doppelkorn, Wodka … oder
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