Tödlicher Steilhang
er selbst Hilfe nötig.
Er entschied es nicht, es entschied sich. Es setzte ihn in Bewegung, ließ ihn unters Fenster treten, bis er nur noch ihren Kopf sah, und legte die Hände wie ein Sprachrohr an den Mund: »Frau Berthold«, rief er leise, wobei ihm der Mund trocken wurde, doch er brachte die Worte klar heraus. Er fühlte sich wie der Ausführende einer inneren Motorik, fremd- und doch selbstgesteuert.
Ihr Kopf ruckte hoch, sie wandte sich ab, es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass draußen jemand rief. Sie trat ans Fenster.
»Herr Hellberger? Was machen Sie hier, mitten in der Nacht?« Erstaunt blickte sie auf ihn herab.
»Ich möchte mich endlich für die Blumen revanchieren. Ich weiß nicht, wann mir jemand zuletzt einen derartig wunderbaren Strauß geschenkt hat.«
»Bilden Sie sich ja nichts darauf ein.« Ihr Lächeln strafte ihre Worte Lügen. »Und wie wollen Sie sich revanchieren?« Sie wirkte einen Moment lang unsicher, dann trat sie vom Fenster zurück. »Ich kann Sie ja nicht einfach im Hof stehen lassen. Warten Sie …«
Susanne Berthold verschwand. Einen Augenblick später sah Georg ihren Schatten hinter der vergitterten Glastür zum Hof und hörte, wie der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde, dann stand sie vor ihm, entwaffnend offen, leider nur für eine Sekunde, aber die Sekunde vergaß er nicht. Also war sie von ihrem Wesen her nicht immer so verschlossen. Und ihre ablehnende Haltung Männern gegenüber war nicht grundsätzlicher Natur. Also gab es Hoffnung? Er wollte nichts von ihr. Doch, er wollte sie kennenlernen, wissen, wie sie war, dann würde sich das, was möglich war, schon zeigen.
»Was starren Sie mich an, Herr Hellberger? Wollen Sie nicht raufkommen?«
Jetzt war es an Georg, nach den passenden Worten zu suchen, Frau Berthold kam ihm entgegen.
»Sie wollten sich revanchieren, dabei waren die Blumen bereits meine Revanche. Das Konto ist ausgeglichen.«
»Ich sah Licht bei Ihnen. Sie arbeiten jede Nacht. Wenn man gegenüber wohnt, bemerkt man das, ohne es zu wollen. Ich dachte, ich wollte, vielleicht kann ich helfen. Ein wenig blicke ich schon durch.«
»Das ist reizend von Ihnen, aber meine Arbeit ist komplizierter als das Aufladen von Kisten …«
Da zeigte sich wieder die Abweisende.
»Dann entschuldigen Sie bitte die Störung, ich wollte Sie nicht belästigen, gute Nacht.«
Sie sah ihn einen Moment lang an, ein wenig zu lange, als müsse sie sich zu etwas durchringen. »So war das nicht gemeint, ich dachte … es tut mir leid«, jetzt stammelte sie. »Ich bin fremde Hilfe nicht gewohnt. Man muss alles allein machen, zumal mir ein Mann fehlt, ich meine damit meinen Mitarbeiter, wie Kilian Ihnen wohl erzählt hat. Es ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich muss allein zurechtkommen. Abends geht das, wenn die Kinder im Bett sind, dann … aber was stehen Sie da draußen herum? Kommen Sie rein. Ein Glas Wein werden Sie nicht ausschlagen.«
Sie ging voran ins Büro, ein kleiner Raum mit Akten vollgestopft, mit Fotos von drei Weinbaugenerationen an einer Wand: die Mosel in Brauntönen, Lesehelfer mit Kiepen auf dem Rücken, Ochsengespanne mit Weinfässern vor Rebstöcken, Urgroßeltern in lackierten hölzernen Rahmen, eine Daguerreotypie einer alten strengen Dame mit Häubchen.
»Die Dynastie der Bertholds?«, vermutete Georg.
»Die Gründerin der Dynastie, wenn Sie so wollen.« Susanne Berthold betrachtete das Foto mit einer gewissen Zärtlichkeit. »Ururgroßmutter Elisabetha, mein großes Vorbild.Sie hat den Laden einst allein geschmissen. Der Mann verstarb früh, ein Unfall mit Pferden im Weinberg, sie hat allein weitergemacht, musste ihre Kinder durchbringen, das Weingut war früher doppelt so groß, dann verkaufte einer ihrer Söhne seinen Erbteil an Fremde, weil der Bruder ihn nicht auszahlen konnte. Ja, so geht es. Anfangs wollte ich das hier wieder zu seiner strahlenden Größe zurückführen.«
»Diesen Plan haben Sie aufgegeben?« Georg fand, dass zwischen Susanne Berthold und der Ururgroßmutter eine gewisse Ähnlichkeit bestand. Vielleicht beschränkte sie sich nicht nur auf das Äußerliche.
»Bei Gelegenheit erzähle ich Ihnen das vielleicht. Ich hole mal eben den Wein.«
»Wäre Kaffee nicht besser?«
»Meinten Sie das mit der Hilfe wirklich ernst?« Sie war stehen geblieben.
»Was dachten Sie? Frau Wackernagel hat mich eingearbeitet.«
»Können Sie mit Warenwirtschaftssystemen umgehen?« Frau Berthold stellte die Frage in einer Weise, als
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