Tödlicher Steilhang
hatte sie gemeint, »nicht so bescheuert wie diese blöde Blume – Jasmin!« Und wenn sie von anderen Kindern sprach, dann nur von den »Kids«.
Der dritte Umschlag war bei Pepe, dem Rocker. Mit ihm hatte Georg seine erste Schlägerei erlebt, nach einem technischen Defekt der PA-Anlage. Die Band hatte nicht weiterspielen können, die Rockfans hatten sich betrogen gefühlt und die Bühne stürmen wollen. Er als Security stand dazwischen. Sie hatten ihn als Fascho bezeichnet, weil er schwarze Kleidung trug, mit dem Schriftzug SECURITY auf dem Rücken. Er hatte die Kluft selbst gehasst.
Vier Typen, die auf Stunk aus waren, vom Heavy-Metal-Sound aufgeputscht, hatten ihn angegriffen: voll mit Amphetamin und Testosteron bis zum Scheitel. Pepe hatte ihn rausgehauen, sie hatten die Bühne nicht mehr geschützt, sie hatten nur noch an ihre eigenen Knochen gedacht und zugelangt. Aufgrund eindeutiger Filmaufnahmen hatte das Gericht Notwehr akzeptiert, sie waren freigesprochen worden. Auf dem Flur vor dem Verhandlungssaal hatte Pepe damals laut von »Hellbergers Highway to Hell« gesprochen, frei nach dem bekanntesten Song von AC/DC, und jedem diesen Weg prophezeit, der sich mit Georg anlegte. Und da er dem Sänger Brian Johnson ähnlich sah, war der Name Hell geblieben.
Er hatte sich bei Pepe revanchiert, er hatte ihm einen Job besorgt, hatte den Behördenkram für ihn erledigt und ihnangestachelt, wenigstens die Mittlere Reife nachzumachen. Dumm war Pepe nicht, schlechte Chancen hatte er gehabt, eigentlich keine. Highway to Hell waren die einzigen englischen Worte gewesen, die Pepe kannte. Dann hatte er den Job im Motorradladen bekommen – und war glücklich, auch weil er Lotte kennengelernt hatte, und Georg war Trauzeuge gewesen. Miriam ekelte sich vor dem »Pack«, wie sie das Paar nannte, und hatte sich deren Besuche verbeten.
Ja, der Umschlag war bei Pepe am sichersten. Er würde ihn verteidigen wie sein eigenes Leben. Außerdem besaß er Freunde, die man um Hilfe bitten konnte, aber wirklich nur im Notfall. Georg hoffte, dass der nie eintreten würde.
5
Er hatte es sich schwerer vorgestellt, denn der erste Abend war fürchterlich gewesen. Er hatte nicht geglaubt, ihn zu überstehen. Doch als in der Dämmerung die negativen Gedanken und die Erinnerungen in der Stille seines Apartments wieder überhandnahmen, als er begann, sich mit Selbstvorwürfen zu geißeln und sich beim Blick aus dem Fenster fragte, ob er wirklich tot und nicht nur schwer verletzt sein würde, wenn er da unten aufschlug, war er geflohen. Der Gedanke, aufzugeben, nicht mehr zu sein, nichts mehr zu fühlen und nichts zu wollen, war faszinierend. Beim zweiten Blick aus dem Fenster dachte er an seine Kinder, klappte verzweifelt die Fensterflügel zu, flüchtete an den Fluss und setzte sich unterhalb der Schleuse am Ufer ins Gras. Die Vorstellung, die Mädchen nicht mehr zu sehen, war der größte Schmerz.
Die Sanftheit der Mosel, ihr weiches Grün, das sie einbettende Tal, auf der gegenüberliegenden Seite leicht ansteigend, auf seiner Seite steil und von dichtem Weinlaub bedeckt, hatte ihn mit einer derartigen Kraft beeindruckt, dass in seinem Kopf kein Platz mehr für selbstzerstörerische Gedanken geblieben war. Da hatte ein Schiff gelegen, seine Besatzung hatte auf das Schleusen gewartet. Radfahrer waren vorbeigekommen, man hatte gegrüßt, er hatte sich umgeschaut, aber außer ihm war niemand da gewesen. Ein Angler hatte seinen Stuhl zusammengeklappt, den leeren Eimer genommen und war achselzuckend vorübergegangen.
»Nichts außer Schwarzmundgrundeln. Alles ist aus dem Lot.«
Was zur Hölle waren Schwarzmundgrundeln? Fische mit schwarzem Maul, die auf dem Grund herumgrundelten?
Alles aus dem Lot. Das galt für ihn auch.
Dann hatte sich in seiner Nähe eine Gruppe von Rentnern niedergelassen und über den Einfluss der Römer auf die Moselregion diskutiert. Angeblich hatten sie den Wein nicht pur getrunken, sondern mit Wasser verdünnt und mit Majoran, mit Thymian und mit wer weiß nicht was gewürzt. War der Wein damals so grausig gewesen, dass man den Geschmack hatte kaschieren müssen? War damals Rot- oder Weißwein angebaut worden? Georg hatte jemanden aus der Gruppe sagen hören, hier sei früher, zu Zeiten der Römer, eine Furt gewesen, etwa da, wo jetzt die Brücke sei, weit unterhalb der Schleuse, zwischen den Ortsteilen Zeltingen und Rachtig. Die Römerstraße habe dort entlanggeführt, wo jetzt die vierspurige Zuführung zur
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