Tödlicher Steilhang
nicht aufs Bett, er wollte die Schwere bis in den späteren Abend retten, um sofort einschlafen zu können. Er duschte, machte sich landfein und trat auf die Straße. Die Sonne war herausgekommen, die letzten Strahlen beschienen nur die oberen Hänge, nach Klaus’ Ansicht die besten. Um diese Zeit war das grüne Tor weit offen, im Hof stand ein Werkstattfahrzeug neben einem älteren Trecker von der Art wie in Sauters Halle. Das Fahrzeug war extrem schmal, die Fahrerkabine befand sich nicht oberhalb der Räder, sondern zwischen ihnen. Bischof hatte es damit erklärt, dass man im Steilhang Fahrzeuge mit tiefem Schwerpunkt brauchte, damit sie nicht umkippten. Sicherer seien Raupenschlepper, der Chef liebäugele zwar damit, habe sich aber der Kosten wegen bisher nicht zur Anschaffung durchringen können.
Zwei Männer schraubten an der Hinterachse herum, die Frau des Hauses war nicht dabei. Georg wunderte sich, dass die Männer am Abend noch arbeiteten. Sicher musste der Trecker morgen wieder einsatzbereit sein, also war eine Nachtschicht nötig. Georg kannte das, er hatte sich nie vor Arbeit gedrückt.
Während des Studiums hatte er tagsüber Vorlesungen besucht und gebüffelt und nachts Security oder Türsteher gespielt. In den letzten Jahren war er häufig nur aus dem Grund länger im Büro geblieben, um nicht nach Hause gehen zu müssen. Mit Miriam vor der Glotze zu sitzen, wenn sie denn zu Hause blieb, hatte ihn gelangweilt. Am meisten Freudehatte es ihm gemacht, Rose Geschichten vorzulesen und zu beobachten, wie sie in den Schlaf hinüberglitt. Wenn er spät gekommen war, hatte er lange an ihrem Bett gesessen und ihr beim Schlafen zugeschaut. Das waren seine glücklichsten Momente. Für Jasmin war alles »ätzend«, »uncool« und »peinlich«, sie war ihm entglitten, sie wurde zum getreuen Abbild ihrer Mutter.
Als er etwas wie Heimweh oder Sehnsucht spürte, riss er sich von der Beobachtung der Monteure los und schlenderte in Richtung Ortskern. Er betrachtete die alten Häuser, achtete auf die ins Fachwerk geschnitzten Jahreszahlen, las die Straßennamen, sah die Blumen in den Vorgärten, die farblich abgesetzten Friese und Simse, und er staunte über einen uralten Weinstock, der quer über die Gasse zu einem anderen Haus hin gezogen war.
Auf dem Marktplatz zwischen den Fachwerkhäusern wurde eine Bühne aufgebaut und darüber ein Zelt errichtet. Wieder spürte er etwas wie Trauer, ein Gefühl von Abschied, wenn er es richtig deutete. Er war es nicht gewohnt, Gefühle zu deuten, er hatte stets funktioniert. Konnte das Durcheinander in ihm ein Fortschritt sein?
Er blieb vor der Bühne stehen und sah den gut gelaunten Männern beim Aufbau der Bühnentechnik zu. Er hatte oft dabei geholfen, er hatte Tonmeister, Bühnenarbeiter, Konzertmanager und Roadies kennengelernt, hatte Caterer empfohlen und wusste, wann ihre Fahrer hier und da mal eine Platte mit belegten Brötchen, Austern oder Wildlachs hatten fallen lassen, natürlich auf die richtige Seite, woraufhin sich die Mannschaft darüber hergemacht hatte. Und er wusste, für welche Musiker Marihuana oder Kokain bestellt werden musste, wer auf Alkohol abfuhr oder sich den einen oder anderen Schuss setzte.
Die technische Ausstattung ließ auf den Auftritt einer Rock- oder Bluesband schließen, was ihn freute und überraschte, denn in dieser teils heimeligen und herzigen Kulissehätte er Operetten und schwülstige Liederabende voll Weinseligkeit erwartet.
Als er die Frau von gegenüber sah, erschrak er. Sie kam direkt auf ihn zu, er war so in Erinnerungen an Iron Maiden, Motörhead und Black Sabbath versunken, dass er sie fast umrannte. Sie hielt an jeder Hand einen ihrer Jungen. Der kleinere lachte laut, er fand es komisch, sein älterer Bruder schien genervt, und Frau Berthold lächelte verlegen, als er sich entschuldigte und nicht wusste, was er sagte, sagen sollte oder gesagt hatte.
Im Blick ihrer dunklen Augen lag mehr Erstaunen als Verärgerung, mehr Skepsis als Ablehnung, bis sich ihr Ausdruck verhärtete und ihm die Falten um den Mund auffielen. Die Augen passten nicht dazu. Die waren weich, freundlich, und – was ihn sehr wunderte – sie zeigten Angst. Vor ihm? Wie absurd! Ihn brauchte man nur anzutippen, und er würde einfach umfallen.
Er trat zur Seite, lächelte sie an, als sie weiterging, und sah ihr nach. Dann drehte sich der Kleine nach ihm um und grinste.
»Mama, der wohnt neuerdings gegenüber, bei Sauter oben, der arbeitet mit Klaus, ich
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