Tödlicher Steilhang
war der Mund etwas zu groß geraten, aber das wuchs sich aus. Er trug ein schlabberiges grünes T-Shirt mit einer aufgedruckten Gitarre und herumfliegenden Noten, es hing über die wadenlangen, grob gemusterten Bermudashorts. Georg grinste und wunderte sich, dass der Junge ihn ansprach, und der wiederholte die Frage.
»Ob ich hier wohne?« Er zögerte mit der Antwort. »Ja, seit ein paar Tagen.«
»Wie heißt du?«
Er nannte seinen Vornamen. »Und wie heißt du?«, fragte er.
»Kilian, mein Bruder heißt Karsten. Arbeitest du für Stefan?«
»Ja … für Herrn Sauter.«
»Bist du der neue Kellermeister?«
»Nein, das bin ich nicht.«
»Was bist du dann? Önologe oder Berater?«
Es war nett, dass der Junge ihn so hoch ansiedelte, das hatte er nicht verdient. Und es war erstaunlich, wie gut er sich auskannte. Nur – was sollte er ihm antworten? »Ich bin Praktikant.«
»Was macht ein Praktikant?«
»Das ist eine Art Lehrling, der lernt und arbeitet gleichzeitig.« Es war verwirrend, von dem Jungen derart offen angesprochen zu werden.
»Wie lange bleibst du hier?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Warum weißt du das nicht?«
Meine Güte, wie selten wurden so einfache und klare Fragengestellt, bei denen es derart schwer war, sie zu beantworten. »Es kommt darauf an …«
»Worauf kommt es an?«
»Wie es mir hier gefällt.«
»Und – gefällt es dir hier?«
Georg holte tief Luft. »Ja, aber genau weiß ich es noch nicht.«
»Ich weiß immer, ob mir was gefällt. Warum weißt du das nicht? Verträgst du dich nicht mit dem Bischof?«
»Was weißt du denn über Herrn Bischof?«
»Er meckert immer mit Klaus rum. Meckert er auch mit dir? Bischof meint immer, dass man alles können muss. Kannst du einen Gabelstapler fahren?«
»Warum willst du das wissen?«
»Weil unser Herr Frieder krank ist, ihm ist gestern eine Palette auf den Fuß gefallen. Und nächste Woche werden Flaschen abgeholt, die müssen aufgeladen werden. Ihr habt einen gelben Gabelstapler.«
»Ja, den haben wir …« Es war überraschend, dass durch den Jungen etwas wie ein Wir wieder in Georgs Bewusstsein trat, er sich als Teil von etwas sah.
»Dann kannst du uns helfen. Machst du das? Kann ich das meiner Mutter sagen?«
Georg nickte, obwohl er nicht wusste, wie er bis dahin den Umgang mit einem Gabelstapler lernen sollte. Aber er fuhr gut Auto, rangierte jeden Siebeneinhalbtonner, mit dem die Bands früher angerückt waren, bevor die Monstertrucks in Mode gekommen waren. Also würde das mit dem Gabelstapler auch klappen. »Sag deiner Mutter, du musst nur rüberkommen und mich holen.«
»Ich weiß, wo du arbeitest. Hast du Kinder?«
Wie kam der Bengel jetzt auf diese verdammte Frage? Georg überlegte, ob er ihn wegschicken sollte, aber er hatte den Eindruck, dass diese Fragen ohne Hintergedanken gestellt wurden und nur der Neugier des Jungen entsprangen.
»Ja, ich habe zwei Töchter.« Jetzt wartete er lächelnd, was Kilian als Nächstes wissen wollte.
»Wie alt sind die, und warum sind die nicht hier?«
Die erste Frage war leicht zu beantworten, bei der zweiten zögerte er. Der Junge fixierte ihn, als würde er etwas von Verhörtechniken verstehen und jetzt auf eine Reaktion warten.
»Sie sind bei ihrer Mutter«, sagte er ausweichend, wohl wissend, dass die nächste Frage lautete, warum sie dort seien. Aber sie kam nicht. Georg wähnte sich am Zug.
»Deine Mutter habe ich neulich gesehen. Und wo ist dein Papa?«
»Weg.«
»Wie – weg, verreist?«
»Weg, der ist weg, schon immer, lange …« Der Junge kam ins Stammeln.
»Ist er gestorben?«
»Weiß ich nicht. Ich muss jetzt gehen.« Kilian drehte sich abrupt um und rannte los, dann kam er zurück, für eine letzte Frage. »Kommst du zum Konzert?«
Georg bestätigte das mit einem Kopfnicken.
»Ich auch«, sagte der Junge und zog zufrieden von dannen.
Georg machte sich wütend ans Aufräumen und Saubermachen. Es war ihm unangenehm, den Jungen wegen seines Vaters in Bedrängnis gebracht zu haben. Er stand mit einem nassen Putzlappen im Badezimmer, blickte auf und sah sich im Spiegel, sah sich selbst in die Augen und fragte sich, was hier mit ihm geschah. Die ersten Akkorde und besonders der Sound des Saxofons rissen ihn aus seinen Betrachtungen. Er hatte so wütend geputzt, dass er das Konzert vergessen hatte. Er duschte, zog eine helle Leinenhose und ein blaues Hemd an und strich sich noch einmal über sein Stoppelhaar. Es war nachgewachsen. Sollte er sich den
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