Tödlicher Steilhang
Bürgerinitiative glich mehr dem Hoffest eines Winzers, und so roch es auch; der Grill war angeheizt, an den Tischen unter großen Sonnensegeln wurden Wein, Kaffee und Wasser getrunken, für Bratwürste, Gemüsespieße und Nackensteaks war es ein wenig früh, Georg hatte gerade erst sein Frühstück hinter sich gebracht. Die Tablette und der Wein hatten ihn schlafen lassen wie tot.
Moseltouristen und Einheimische setzten sich deutlich voneinander ab. Sie unterschieden sich weniger von der Kleidung her als im Verhalten und im Alter. Die Einheimischen waren meist jünger, sie standen in Gruppen beieinander, man kannte sich und schwatzte; die Touristen, viele waren mit Fahrrädern gekommen, saßen mehr oder weniger schweigendpaarweise an den Tischen. Einige lasen die ausgelegten Flugblätter, flüsterten miteinander, als schämten sie sich vor lauten Worten, andere standen stumm vor der Wandzeitung mit den neuesten Nachrichten zum Bau der Hochmoselbrücke und einer Übersichtskarte über die Streckenführung.
Obwohl sich Georg wenig für Politik im Konkreten interessierte, wusste er doch, dass es heutzutage kaum ein Bauprojekt gab, gegen das die Betroffenen nicht protestierten, Anlieger wie Umweltverbände. Jede bauliche Maßnahme hatte negative Folgen für den einen oder anderen. Letztlich sollten seiner Ansicht nach die Anwohner entscheiden, wie sie leben wollten, die Einwohner Ürzigs und der Gemeinden am Ufer gegenüber, in Erden und Rachtig. Sie trugen die Folgen. Dass Politiker das Gemeinwohl im Auge hatten, nahm ihnen kaum noch jemand ab.
Vor einem Jahr hätte ich wohl kaum protestiert, sagte sich Georg, wenn man mir erklärt hätte, die Brücke über meinem Kopf sei gut für mich und meine Familie. Wieso sehe ich das jetzt anders, wieso sehe ich das überhaupt und wieso interessiert mich das? Weil vom Autoverkehr niemand verschont bleibt, vom Lärm der Eisenbahnen und Flugzeuge? Niemand wird verschont, alle werden vom Dauerlärm gestresst sein, ein ständiges Rauschen wird das Leben begleiten, und nachts geistern die Scheinwerfer der Lkws in einhundertfünfzig Meter Höhe durch den Himmel – ganz zu schweigen von den Abgasen und dem Feinstaub. Wahrscheinlich sind die Deutschen deshalb so gestresst, dachte Georg und wandte sich der Wandzeitung zu.
Die Übersichtskarte interessierte ihn, aber ein dreißig Jahre alter Artikel aus der Illustrierten ›Stern‹ fesselte Georgs Aufmerksamkeit sofort. Bereits in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts waren der Ausbau der B 50 und die Brücke geplant worden als rein militärisches Projekt der USA und der NATO für das Schlachtfeld zwischen Ost und West. Die Straße sollte als steigungsfreie Verbindung des Hafensvon Antwerpen mit den US-Militärflughäfen Spangdahlem, Hahn und den Stützpunkten für die Cruise Missiles dienen. Niemand zwischen Oder und Rhein hätte je diesen Krieg überlebt, niemand bis auf radioaktiv verseuchte Kellerasseln und Kakerlaken. Wozu, wenn der Kalte Krieg wirklich vorbei war, diente dann die gigantische Brücke jetzt? Eine zivile Verbindung ließe sich an anderer Stelle bauen, diskret, kleiner und nicht so teuer. Die Zeittafel an der Wand ließ ihn aufmerken: 1984 waren die Kosten mit siebzig Millionen Mark veranschlagt worden, heute sollten sich Straßenbau und Brücke auf dreihundertsiebzig Millionen Euro belaufen.
Welcher Unsinn, dachte Georg und gewann den Eindruck, dass der Bürger einmal mehr über den Tisch gezogen wurde, während Baufirmen, Politiker und Gutachter sich aufspielten und absahnten. Die Frage war, wie die Millionen verteilt wurden. Berlins Bürgermeister stürzte mit dem Berliner Flughafen ab, bei den Hanseaten versank die Elbphilharmonie in steigenden Kosten, und Stefan Mappus aus Baden-Württemberg hatte sich beim Fehlkauf des Energiekonzerns EnBW einen elektrischen Schlag geholt. Dem ehemaligen rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Beck hatte der finanzielle Crash am Nürburgring nicht gereicht, er brauchte allem Anschein nach noch eine Brücke – um sich da runterzustürzen? Aber dazu fehlte Männern, die von Verantwortung redeten, die Courage. Und ich werde gejagt, sagte sich Georg, nur weil ich mich weigere, illegale Geschäfte zu decken.
Gerechtigkeit war für Georg eine Illusion, ein Beruhigungsmittel für Leute, die mit blauen Augen in die Welt blickten. Das traf sicher auf einige Besucher dieser Matinee auch zu, wenn sie glaubten, ihr Protest könne etwas bewirken.
»Wo sind die Leute von
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