Tödlicher Steilhang
Gabel langsam unter die Palette, hob sie an, bis er Widerstand spürte, kippte die Ladung leicht, hob sie endgültig vom Boden und setzte zurück. Dann ließ er sich vom Fahrer zeigen, wo die Fracht auf dem Lkw abgesetzt werden sollte. Mit einem Hubwagen bugsierte der Fahrer danach die Palette auf der Ladefläche in die gewünschte Position. Bei der zweiten Palette fuhr Georg zu weit nach links, setzte zurück und nahm nochmals Anlauf, bis die Gabel mittig stand.
Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, er konnte sich nicht erinnern, jemals bei einer Arbeit so aufgeregt gewesen zu sein. Im größten Getümmel vor der Bühne, wenn die Menge tobte und die Fans stürmten, aufgeheizt vom härtesten Beat, war er stets die Ruhe selbst geblieben. Als er auf Geheiß von Jason Baxter Entlassungen hatte vornehmen müssen, war seine Ruhe einer tiefen Übelkeit gewichen. Das Beladen hier führte ihn auch an Grenzen. Das Adrenalin stand ihm bis zum Hals, als er erleichtert zurücksetzte und Kilians Handzeichen zum Anhalten sah. Er kam zwei Zentimeter vor der Hauswand zum Halten.
Frau Berthold redete weiter mit dem Fahrer, so hatte Georg Gelegenheit, sie vom Sitz seines Fahrzeugs aus heimlich zu betrachten. Das blonde Haar und das weit über die Jeans fallende Männeroberhemd ließen sie mehr jungenhaft als fraulich wirken, dabei war sie nur unwesentlich jünger als er. Sie wirkte ernst und überlegt, das machte sie älter. Mit ihren großen Augen taxierte sie alles und jeden, als drohe von überall Gefahr, gleichzeitig strahlte sie auch den Ernst derer aus, die Entscheidungen treffen.
Ein widersprüchlicher Mensch, eine komplizierte Frau, dachte Georg und erinnerte sich daran, wie sie den Jungen, als er ihm gewinkt hatte, in den Hof gezogen hatte. Da war sie gänzlich auf Abwehr eingestellt gewesen. Jetzt wirkte sie ein wenig entgegenkommender. Während Georg sie noch betrachtete, wandte sie sich ihm zu, als hätte sie es bemerkt.
»Mein Sohn hat mir gar nicht gesagt, dass Herr Sauter einen neuen Mitarbeiter hat«, sagte sie mit einer distanzierten, aber doch sehr angenehm tiefen Stimme.
»Er ist der Praktikant«, sagte Kilian stolz, als handele es sich um einen besonderen Rang.
Frau Berthold schmunzelte. »Rede keinen Unsinn«, sagte sie zu ihm und tätschelte ihn an der Schulter. »Kilian ist sehr besitzergreifend.« Das war an Georg gerichtet. »Er geht gleich auf alle Menschen zu, er ist allzu … distanzlos. Das müssen Sie ihm nachsehen.«
Er hat das, was der Mutter fehlt, vermutete Georg, den Wunsch nach Nähe. »Ist Wissbegier nicht die Voraussetzung dafür, das Leben zu ergründen?«, fragte Georg vorsichtig. Mit dieser Frau musste man behutsam umgehen, das war ihm schnell klar geworden. Sie schützte sich mit Stacheln, die würden in seinen frischen Wunden besonders schmerzen.
»Man gelangt sowieso nie auf den Grund«, meinte Frau Berthold, unterschrieb irgendein Papier, wünschte dem Fahrer eine gute Reise und sah zu, wie er zurücksetzte. Georg wollte warten, bis der Lkw vom Hof war, um die Ausfahrt fürsich zu haben. Er durfte sein erfolgreiches Manöver nicht in letzter Sekunde gefährden. Er fuhr aufs Tor zu, um wortlos zu verschwinden.
»Sie waren gestern auch bei Herrn Menges«, rief sie ihm nach. »Haben Sie gehört, dass … dass er tot ist?«
Georg hielt inne. »Klaus, unser Azubi, hat davon berichtet. Was für eine absurde Vorstellung. So ein Unglück ist grauenvoll.«
»Besonders für seine Familie und die, die ihn kannten. Helmut war ein wunderbarer Mensch und Kollege und sehr hilfsbereit, ein Winzer, dem wie kaum einem die Mosel am Herzen lag. Er hatte sich ganz dem Erhalt unserer Steillagen verschrieben, er bereitete gerade eine Aktion vor, die sich gegen den Abriss von Trockenmauern und ihren Ersatz durch Gabionen richtete …«
»Was bitte sind Gabionen?«
»Sie haben sicher an Böschungen die mit Steinen gefüllten Drahtkörbe gesehen? Niemand weiß, wie lange die wirklich halten. Und er hat entschieden gegen die Brücke gekämpft. Der Bau wird dazu beitragen, wieder ein Stück Kulturland zu vernichten. Mir scheint, als sei den Leuten hier alles gleichgültig. Wahrscheinlich müssen ihnen erst die Pfeiler auf die Köpfe fallen und die Schatten der Autobahn in den Garten. Dabei reden sie von Heimat und davon, wie schön es hier ist, aber dafür tun die Moselaner nichts. Alles scheint darauf angelegt, die Welt kaputtzumachen, damit man vom Flughafen Hahn nach London zum Shoppen fliegen kann. Sie
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