Toedlicher Sumpf
einem großen alten Haus an der Crete Street, und sie hat es nicht weit zur Bushaltestelle. Natürlich passt sie immer noch auf, dass sie bei Einbruch der Dunkelheit zu Hause ist und die Tür verriegelt hat. Alte Gewohnheit. Aber sie ist glücklich. Es ist sicher hier und nett, endlich eine Wohnung, wie sie sie immer verdient hat.
Was sie in der Tagesstätte verdient, deckt ihre laufenden Kosten weitgehend; ich zahle Wasser, Strom und Telefon und gebe ihr noch ein bisschen dazu, damit sie sich was zum Anziehen kaufen oder auch mal was unternehmen kann. Früher habe ich ihr das Geld in die Hand gedrückt, und sie hat sich immer tausend Mal bedankt. »Eigentlich sollte eine Mutter nichts von ihrem Kind nehmen.« Das war mir sehr unangenehm. Deshalb schiebe ich die Scheine jetzt einfach halb unter die Folgers-Kaffeedose.
Ich breche auf. Ist alles in Ordnung, alles gerichtet? Habe ich sie zehn Mal umarmt und ihr gesagt, dass sie die liebste Mamá der Welt ist? Hat sie mich cielo genannt, querida, tesoro , Schatz?
»Hör mal, Nola«, sagt sie noch, »ich habe eine Freundin, der ich dich gern mal vorstellen würde.«
»Ja, natürlich.«
»Ich hab sie im Gemeindezentrum kennengelernt.« Meine Mutter bietet ehrenamtlich Unterstützung beim Erlernen von Englisch als Zweitsprache und beim Lesenlernen an. »Sie ist sehr nett. Sie hat einen Sohn in deinem Alter.«
Oh Gott, bloß nicht. Da droht eine aussichtslose Kuppelei. »Mama, ich möchte nicht den Sohn von irgendwem kennenlernen. Mir ist nicht nach ...«
»Nein, nein, mi’ja . Sie ist einfach nett, und ich möchte dich ihr vorstellen, weiter nichts.«
»Natürlich. In Ordnung.« Jede Wette. Ich treffe die Mutter, und plötzlich taucht der Sohn auf, um das Auto vorbeizubringen oder was auch immer. Ach, das ist übrigens Antonio . Und so weiter.
»Vielleicht kann sie mal sonntags zum Essen kommen.« Sie reibt das goldene Kreuz an ihrem Hals.
»Klar, warum nicht? Ich freue mich immer, deine Freundinnen kennenzulernen. Ich bin froh, dass du überhaupt welche hast!« Ihr Leben dreht sich, um ehrlich zu sein, ein bisschen zu sehr um mich. Sollte ich die Chance haben, nach New York zu gehen, möchte ich, dass sie hier auch andere Unterstützung hat. »Sag mir einfach rechtzeitig Bescheid, ja?«
»Danke, mi’ja! «
» No problema . Ganz wie du willst.« Ich beuge mich vor und gebe ihr einen Kuss auf die Wange.
Vor dem großen Spiegel neben der Tür bleibe ich noch einmal stehen, um mein Haar zurechtzuzupfen. Am Rahmen des Spiegels steckt ein brieftaschengroßes Foto. Ich nehme es heraus, um es mir genauer anzuschauen. Es zeigt mich als kleines Mädchen, breit lächelnd, die Locken mit einer Schleife zurückgebunden, der weiße Kragen der Schuluniform makellos. Alles extra fürs Foto. Meine großen braunen Augen strahlen. Der Blick ist offen, freundlich. Wann habe ich aufgehört, so zu lächeln? Mamá hat immer das ganze Set Fotos gekauft, auch dann, wenn wir uns nur die kleinste Auswahl hätten leisten können.
Ich drehe mich zu ihr um. »Leihst du mir das mal?«
»Ach, nein, mi’ja . Das kann ich dir nicht mitgeben. Ich habe nur noch das eine. Mira «, sagt sie und dreht das Bild um. »Schau mal.« Mi querida Nola steht da in ihrer sorgfältigen, geschwungenen Handschrift, meine liebe Nola. 8 Jahre alt, 3. Klasse. 1989 . » Ay, qué linda «, murmelt sie.
Ich gebe ihr einen Kuss.
»Ich leihe es nur aus«, verspreche ich. »Ich bring’s dir zurück, das schwöre ich. Ich mache eine Kopie davon und bringe dir dieses zurück.«
Sie schüttelt den Kopf, überlässt mir das Bild aber. Ich schiebe es in meine Brieftasche.
»Ich hab dich lieb, Mamá.« Noch einmal umarme ich sie, und sie presst das Gesicht in meine Halsbeuge. Ich weiß, sie lässt mich nur ungern ziehen, und trotzdem löst sie sich von mir, küsst mich auf beide Wangen und schiebt mich zur Tür hinaus. Das Letzte, was ich von ihr sehe, ist der sanfte, einsame Blick.
Als ich am Nachmittag zu Hause am Laptop sitze und arbeite, sage ich mir, dass sie mehr oder weniger nebenan wohnt und ich jeden Sonntag mit ihr verbringe, dass ich sie, verdammt noch mal, liebe, dass ich aber auch siebenundzwanzig bin und nichts dafür kann, wenn sie ihr ganzes Leben nur auf mich ausrichtet. Sollte ich einen Job in New York bekommen, wird sie eine schwerwiegende Entscheidung treffen müssen. Ich denke über Grenzen nach, über Unabhängigkeit und darüber, wie leichtherzig manche Kommilitonen an der Tulane sich von
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