Tödliches Abseits (German Edition)
Hörer.
»Schmidt. Geschäftsstelle des Amtsgerichtes Recklinghausen«, meldete sich eine Frauenstimme. »Könnte ich bitte Herrn Rechtsanwalt Esch sprechen?«
»Am Apparat.«
»Ah so. Herr Esch, die dritte Kammer für Strafsachen hat Sie zum Pflichtverteidiger in der Sache Kröger bestellt.«
Rainers Herz schlug höher. Ein Mandat! »Um was geht es denn da?«
»Warten Sie einen Moment.«
Der Anwalt hörte Blätterrascheln.
»Ein Tötungsdelikt. Ihr Mandant heißt Michael Droppe, Castrop-Rauxel, Viktoriastraße 12. Er ist ...«
»Augenblick, bitte.« Esch schnappte sich einen Bleistift und notierte die Anschrift. »Ja, hab ich.«
»Ihr Mandant befindet sich zurzeit in Bochum in Untersuchungshaft. Deshalb unsere telefonische Vorabinformation. Die schriftliche Bestellung ist bereits seit gestern in der Post. Sie müssten sie heute noch erhalten. Wenn Sie das Mandat ablehnen wollen, müssten Sie ...«
»Nein, nein«, beeilte sich Rainer zu versichern. »Ich nehme das Mandat selbstverständlich an.« Wurde ja auch Zeit, dachte er. »Nur ... sagen Sie, wie ist der zuständige Richter auf mich gekommen?«
»Das kann ich Ihnen sagen. Richter Bleibtreu bestellt als Pflichtverteidiger grundsätzlich den zuletzt zugelassenen Rechtsanwalt im Landgerichtsbezirk Bochum. Und das sind Sie. Der Jugend eine Chance, gewissermaßen.«
»Aha.« Wenn der wüsste, dachte Esch. Von wegen Jugend. Er ging deutlich auf die Vierzig zu.
Rainer widerstand der Versuchung, in seinem Büro herumzutanzen, und griff stattdessen zu seiner Strafprozessordnung, um nachzulesen, was dort über Pflichtverteidigungen stand. Bei § 140 wurde er fündig : Die Mitwirkung eines Verteidigers ist notwendig, wenn 1. die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht oder dem Landgericht stattfindet; 2. dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird; 3. das Verfahren zu einem Berufsverbot führen kann; 4. der Beschuldigte taub oder stumm ist.
Esch schenkte sich den Rest. Satz 1 und 2 griffen. Rainer hoffte, dass nicht auch Satz 4 zutraf.
Eine gute Stunde später brachte der Postbote das angekündigte Schreiben des Amtsgerichts Recklinghausen. Mit zittrigen Fingern riss Esch den Umschlag auf. Ja, da stand es, schwarz auf weiß. Bestellt zum Rechtsbeistand in der Mordsache Kröger.
Esch schluckte. Mord? Er sollte in einem Mordprozess als Pflichtverteidiger auftreten? Als blutiger Anfänger? Er schluckte erneut, spürte aber weiterhin einen Kloß so groß wie einen Tennisball im Hals. Rainer brach gedanklich zusammen. Das konnte, nein, das musste eine Schuhnummer zu groß für ihn sein.
Dann dachte er nach. Mord. Nun gut. Er richtete sich innerlich wieder auf. Für seine Beauftragung konnte es nur zwei plausible Gründe geben: Entweder war der Richter bei seiner Verfügung geistig nicht voll auf der Höhe gewesen, was ja auch in diesen Kreisen von Zeit zu Zeit vorkommen soll, oder der Fall war so was von wasserdicht, dass auch ein Greenhorn wie er absolut nichts versauen konnte. Im letzteren Fall ging es also nur da-
rum, dem Gesetz Genüge zu tun. Ein Anwalt musste her, egal welcher.
Esch sah seinen Mandanten vor seinem geistigen Auge auf der Anklagebank zusammenklappen, während sein Verteidiger – nämlich er selbst – in der imposanten schwarzen Robe mit souveräner Stimme plädierte: »Und im Übrigen schließe ich mich den Ausführungen des Herrn Staatsanwaltes an und bitte um eine milde Strafe, sagen wir ... um schlappe 15 Jahre.«
Entschlossen stand Rainer Esch auf. Nicht mit ihm! So ließ er sich in seiner ersten Strafsache doch nicht abservieren. Er nicht! Wie ein Berserker würde er um die Freiheit seines Mandanten kämpfen. Gutachten um Gutachten würde er beantragen, Beweisanträge stellen, Richter wegen Befangenheit ablehnen, die Presse einschalten, um die Öffentlichkeit dafür zu sensibilisieren, welch himmelschreiendes Unrecht die nackte Klassenjustiz seinem völlig unschuldigen Mandanten anzutun gedachte, den Petitionsausschuss des Bundestages einschalten ...
Vorher allerdings würde es sich anbieten, ein erstes Gespräch mit seinem Mandanten zu führen. Nur so konnte er schließlich die geeignete Prozessstrategie entwickeln. Allerdings: Was konnte das schon für eine Strategie sein in einer im wahrsten Sinne des Wortes todsicheren Sache? Und schlagartig waren sie wieder da, seine nagenden Zweifel. Rainer seufzte. Sein Mandant wanderte mit absoluter Sicherheit in den Knast. Für Jahre. Und er, Rainer Esch,
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