Toedliches Konto
Hackordnung kompensierte Fischer allerdings durch ein übertrieben zur Schau gestelltes Selbstbewusstsein. Man hatte es schon lange nicht mehr ernst genommen, wenn er seine persönliche Bedeutung bei der Lösung eines Falls herausstellte. Zum Schrecken seines Chefs hatte sich Fischer jetzt zum Abschied eine Feier erbeten, die man ihm nach 36 Dienstjahren auch nicht verwehren konnte. Wenigstens eine kleine Feier.
Lena erkannte sofort, dass die kleine Feier den Nachteil hatte, mit den sparsamen Häppchen nicht das Abendessen einsparen zu können. Sie würde sich zu Hause noch ein oder zwei Käsebrote machen müssen. Der billige Prosecco barg außerdem die Gefahr von Kopfweh in sich, zumindest wenn sie damit ihren aufkommenden Frust runter spülen musste. Es waren vielleicht 20 Kolleginnen und Kollegen gekommen, die meisten mochte sie sogar. Wenigstens das. Auch Gero und Miriam waren gekommen und standen zusammen. Aber zumindest ohne Körperkontakt.
Gero sprach Lena sogar an. “Wie geht es mit Eurem Fall?”
“Miriam hat dir sicher schon alles erzählt. Wir haben große Freude daran, und wenn wir damit fertig sind, dürft Ihr weitermachen. Betrügereien ohne Ende.”
“Na, dann werden wir Verstärkung brauchen.”
“Ich bin überzeugt, du wirst dir dann Miriam holen, weil sie den Fall ja schon kennt.”
“Gute Idee, Lena, oder ich nehme dich.”
“Du kannst mir ja mal einen großen Becher Eis spendieren, vielleicht überlege ich es mir dann.”
Miriam schaute an Lena vorbei in die Runde und wusste nicht, was sie sagen sollte.
Das Geplänkel wurde durch das Klingen von zwei Gläsern unterbrochen, und der Chef des Betrugsdezernats räusperte sich. Er war mit Anfang 40 ein noch recht junger Chef, dessen krauser Lockenkopf nicht so ganz dem durchschnittlichen Kriposchädel entsprach.
Mit seiner kräftigen Stimme rang er sich lobende Worte über den Dienstweg von Fischers Fritze, wie er gerne genannt wurde, ab. Lena hasste solche Reden wie die meisten Anwesenden auch. Lustige Begebenheiten oder wenigstens humorvolle Zwischentöne waren dem Chef nicht eingefallen. Es blieb bei unaufrichtiger Lobhudelei und Langeweile. Immerhin fand die Ansprache nach zehn Minuten ihren Abschluss. Der Beifall blieb bescheiden, was auch daran lag, dass die meisten ein Glas in der Hand hielten.
Aber das Schlimmste kam noch. Fritz Fischer fühlte sich - natürlich - bemüßigt, ebenfalls eine Rede zu halten. Nur deshalb hatte er auf der Feier bestanden. Und was in all den Jahren an Selbstbeweihräucherung noch belustigt oder wenigstens emotionslos von den Kollegen ertragen werden konnte, erreichte jetzt in 23,5 Minuten - handgestoppt - ein Ausmaß an Unerträglichkeit. Er unterstrich die Bedeutung seiner Ausführungen durch weit ausholende Armbewegungen, als wolle er mit der Sense die Wiese mähen oder den Diskus in die Unendlichkeit schleudern, in die einige ihn jetzt gerne verbannt hätten.
Lena musste an ihren Onkel Otto und die Feier seines 80. Geburtstags denken. Bei der Erinnerung daran konnte sie wenigstens das Gelaber von Fischers Fritze ausblenden. Otto hatte sich nach dem Tod seiner Frau mit einer zwölf Jahre jüngeren Frau zusammen getan und machte sich mit regelmäßigen Reisen nach Antalya und Mallorca ein schönes Leben. Man hatte es ihm ja gegönnt, wenn nur sein schreckliches Imponiergehabe nicht gewesen wäre. So entblödete er sich auch an seinem 80. Geburtstag nicht, mit penetrant zur Schau gestellter Fröhlichkeit einen auf Stimmungskanone zu machen. Schließlich stieg er sogar auf einen Tisch und stimmte Ja mir san mit ’m Radl da an, was ja noch ganz lustig war. Dann zitierte er zwei sehr schlüpfrige Gedichte, die mit eigenen Interpretationen noch aufgepowert wurden. Die Grenze der Peinlichkeit war längst überschritten, was ihn aber erst so richtig in Fahrt brachte. Schließlich lobte er seine eigene Männlichkeit, die auch ohne Viagra noch in Hochform sei, was seine Partnerin durch lebhafte Pendelbewegungen ihres Beckens bildhaft unterstrich. Hier hätte ein Regisseur schon lange ausblenden und Werbung bringen müssen, was glücklicherweise auch Ottos jüngerer Bruder Helmut so sah und laut rief: “Jetzt lassen wir unseren Otto hoch leben und wünschen ihm noch viele schöne Jahre.” Zwei Monate später war Otto gestorben. Herzschlag beim Liebesakt.
Lena kam durch zaghaften Beifall in die Gegenwart zurück. Fischer hatte ein Ende gefunden, jedenfalls in seiner Rede. Lena trank ihr Glas aus und
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