Tödliches Orakel
Delphi, sondern freischaffende Seherinnen. Ihre Orakelsprüche bedurften stets der Deutung; der Begriff 'sibyllinisch' bedeutet demzufolge rätselhaft, mehr- oder doppeldeutig.
2. Buch
Tag 9 – Dienstag, 8. August, später
»Kommen Sie her«, sagte ich ins Telefon, Frau Berger erwiderte nichts. »Bitte. Sie müssen ihm sagen, dass er gehen soll. Wenn er nicht geht, rufe ich Oleg an.«
»Herrn Oleg wird es sehr interessieren, dass Sie sterben möchten«, gab Frau Berger zurück.
»Sam hat es Ihnen gesagt?«, fragte ich verdutzt, denn da bildeten sich wohl gerade neue Allianzen. Hinter meinem Rücken. Sam, Frau Berger. Und Kasimir. Hockten die zu dritt in Frau Bergers blitzblanker Küche und redeten über mich? Bei Kaffee, Sahnetorte und Hundekuchen?
»Natürlich. Herr Sam war zum Essen bei mir. Er ist besorgt. Er verehrt Sie.«
»Er hat nur Angst um sich selbst«, sagte ich, sie legte auf.
Ich sah auf den Monitor. Sam saß in einem Sessel auf der Terrasse, seitdem ich ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte. Also seit heute Morgen, mit einer kurzen Unterbrechung gegen sieben Uhr am Abend: Er war über die Mauer geklettert, und als er nach einer knappen Stunde zurückgekehrt war, hatte er eine Tasche dabei gehabt. Er hatte nicht geklingelt, nicht geklopft, nicht angerufen: Er war einfach gekommen und geblieben. Und ich ahnte, dass er nicht gehen würde. An diesem Abend saß ich in meinem Wohnzimmer und las, er hockte keine drei Meter von mir entfernt und starrte auf die dunklen Büsche und das unbewegte Wasser des Pools. Als ich um zwölf das Licht ausmachte und nach oben ging, putzte ich mir die Zähne, zog meinen Schlafanzug an und warf dann noch einen Blick auf den Monitor, der nun dazu auserkoren war, meinen Logiergast zu überwachen: Die Tasche war ein Schlafsack gewesen, Sam lag jetzt zugedeckt auf der Terrasse auf dem Sofa, ein Polster als Kissen unter dem Kopf. Ich zoomte an sein Gesicht heran: Er hatte die Augen offen, blickte genau in die Kamera und ich sah, wie seine Lippen mir stumm 'Gute Nacht' wünschten.
***
»Machen Sie ihm einen Kaffee«, sagte Frau Berger am nächsten Morgen, »und reden Sie mit ihm.«
»Nein«, antwortete ich und wusste, dass sie nur angerufen hatte, um sich nach Sam zu erkundigen.
»Dann kann er bei mir Frühstück bekommen. Er ist so dünn.«
»Er ist nicht dünn, er ist nur sehr schlank. Das weiß ich ganz genau, weil er sich eben komplett ausgezogen und an der Brause am Pool geduscht hat. Er scheint zu glauben, dass er auf meiner Terrasse wohnen kann, aber das kann er nicht.«
»Er kann«, schoss Frau Berger dazwischen. »Er kann es, und er tut es.«
»Was ich nicht möchte. Wenn Sie ihm schon Frühstück machen, dann geben Sie ihm doch bitte auch das Gästezimmer. Lassen Sie ihn Ihr Bad benutzen. Ich möchte morgens keinen nackten Kerl über meinen Rasen hüpfen sehen.«
»Herr Sam ist am richtigen Platz. Ihm liegt an Ihnen, nicht an mir. Wir haben nur unsere Besorgnis um Sie gemein.«
Ich lachte bitter: Frau Berger vergötterte Sam, eine andere Erklärung gab es für dieses mütterliche Gebaren nicht.
»Ich bin auch besorgt«, sagte ich und machte meine Stimme jetzt scharf und kalt, weil ich das Thema Sam leid war. »Ich bin darüber besorgt, dass wir in einer halben Stunde einen Kunden haben, und Sie sich nur um Sam kümmern. Ich möchte, dass alles bereit ist. Ich möchte, dass Sie tun, wofür ich Sie bezahle.«
Frau Berger verstummte.
»Natürlich«, sagte sie schließlich und schaffte es, in diese drei Silben mehr Protest zu legen als in eine Großkundgebung mit Megafonen.
Sie war beleidigt – zu Recht, denn ich war gemein gewesen. Dennoch tat sie, worum ich gebeten hatte, bedachte den Kunden mit freundlichen Worten, mich jedoch mit äußerst finsteren Blicken. Der Termin war okay, der Mann ein Stammkunde, der mich zum dritten Mal aufsuchte. Er war ein umsichtiger Mensch, angenehm. Innerlich nicht so sauber wie Sam, denn niemand war so sauber wie Sam, aber erträglich. Der Kunde erzählte mir von seinem Versuch, an seiner Beförderung zu arbeiten, wie wir es besprochen hatten, und er brachte mich zum Lachen, weil er dabei ein gutes Stück über das Ziel hinausgeschossen war. Nach dem Termin haderte ich kurz mit mir, zog mir dann aber trotzig einen Badeanzug an und marschierte an Sam vorbei zum Pool. Ich zog meine Bahnen, kletterte heraus, er reichte mir das Handtuch. Ich sah auf die Fliesen, den Rasen – überall hin, nur nicht in
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