Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
war viele Jahre her.
Eine ältere Frau im gestreiften Pyjama musterte ihn mit unverhohlener Neugier, als er das Haus betrat.
Über eine knarrende Holztreppe tastete er sich im Halbdunkel in den dritten Stock hinauf. Da er keinen Lichtschalter gefunden hatte, war er froh, als auf dem Treppenabsatz Licht durch ein kaputtes Fenster fiel. Er konnte einen engen Korridor ausmachen, der mit trocknender Wäsche und Kochherden vollgestellt war und als Lagerraum für alles Erdenkliche diente. Dieser Anblick war ihm nicht fremd; bei der Enge der Zimmer wurde jeder Abstellplatz auf dem Korridor zum hart umkämpften Territorium.
Schließlich klopfte er an eine Tür, auf der mit verblichener Farbe »3 b« stand.
Shanshan öffnete und lächelte verwundert. Sie trug einen weißen Frotteebademantel, und das sanfte Licht der Zimmerbeleuchtung umstrahlte sie wie eine Aureole.
»Was für eine Überraschung, Chen! Komm doch rein«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen. Dann schloss sie die Tür hinter ihm. »Wie hast du mich ausfindig gemacht?«
»Ich habe mir einfach gemerkt, was du mir während der Bootsfahrt erzählt hast: Von der Übereinstimmung mit der Nummer und dem winzigen Wohnheimzimmer. In einem Lokal in der Nähe habe ich zufällig von der Lage des Wohnheims erfahren.«
»Du könntest Detektiv sein, Chen.«
Sie musste sich eben die Haare gewaschen haben, denn sie hingen ihr in glänzenden, nassen Strähnen über die Schultern herab.
»Wohl eher ein Hobbydetektiv«, erwiderte Chen lächelnd. »Außer einem Mittagessen mit dem Direktor des Erholungsheims hatte ich heute nichts weiter vor. Und als ich so am Fenster stand, kam mir ein Gedicht von Liu Yong in den Sinn, das mich an dich denken ließ. Der Ausblick auf den See war einfach phantastisch, aber ihn allein zu betrachten ist nur der halbe Genuss.«
»Welches Gedicht war es denn?«
»Eines seiner berühmtesten, darin sagt er so treffend: All die herrliche Leidenschaft entfaltet sich vor mir / doch was nutzt’s, wenn ich zu niemand davon sprechen kann? «
Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Nach dem Bankett, am Fuß des Hügels hinter dem Erholungsheim, waren ihm andere Zeile in den Sinn gekommen – seine eigenen. Doch auch die waren von Sehnsucht nach Shanshan inspiriert gewesen. Und das Gedicht von Liu Yong hatte sich ihm tatsächlich beim Blick aus dem Fenster immer wieder aufgedrängt.
»Wirst du schon wieder poetisch, Chen? Du hättest wenigstens anrufen können, bevor du kommst. Nicht dass du mir nicht willkommen bist, aber ich hätte ein bisschen aufräumen können. Hier ist so ein Durcheinander.«
Er lächelte, ohne etwas zu erwidern. Zu seiner Überraschung fiel es ihm in ihrer Gegenwart leicht, in diese »poetische« Rolle zu schlüpfen.
»Wegen mir brauchst du dir keine Gedanken zu machen«, entgegnete er.
Das Zimmer sah tatsächlich so aus, wie er es sich vorgestellt hatte. Und das Durcheinander, das dort herrschte, hatte weniger mit Unordnung, sondern vielmehr mit Platzmangel zu tun. Der gesamte Raum umfasste kaum mehr als fünf Quadratmeter und wurde zu einem Großteil von einem rostigen Feldbett eingenommen. Unter der von Wasserflecken verzierten Decke hatte sie sich – ähnlich dem Gepäcknetz in der Eisenbahn – weiteren Stauraum geschaffen, der mit allem Möglichen vollgestopft war. Von einem Haken hingen Trockenwürste.
Parallel dazu war eine Wäscheleine gespannt, die, sah man von einer Strumpfhose ab, zum Glück leer war.
Vor dem unteren Teil des Bettes stand ein grobgezimmerter Holztisch, der ihr offensichtlich auch als Schreibtisch diente, denn er war mit Büchern, einem Heft und ungespültem Geschirr vollgestellt. Außerdem hatten dort noch ein kleiner Kocher – ähnlich dem auf dem Sampan – sowie ein Nest Nudeln Platz gefunden. Unter dem Bett lugten mehrere Paar Schuhe hervor, darunter auch jene hochhackigen Sandalen, die sie bei dem Bootsausflug getragen hatte. Es war erstaunlich, was sich auf so engem Raum alles unterbringen ließ.
Er fühlte sich in seine Studienzeit zurückversetzt, als er – zusammen mit drei anderen Studenten – ebenfalls in einem solchen Wohnheimzimmer gehaust hatte. Immerhin hatte er dort nicht kochen müssen.
Er konnte sich nicht zurückhalten und musterte alles ganz genau. Shanshans Wohnsituation stand in denkbar großem Kontrast zu der von Liu, ein Gegensatz, auf den ihn die beiden Trunkenbolde bereits vorbereitet hatten.
»Das Problem mit solchen Wohnheimzimmern ist, dass man sie
Weitere Kostenlose Bücher