Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
Hintergrund sagte Chen, dass sein Partner nicht von zu Hause aus anrief; zwischendurch konnte er immer wieder Peiqins aufgeregte Stimme hören.
Yu erzählte, was die beiden herausgefunden hatten.
Es wurde ein langer Bericht, bei dem Yu immer wieder Peiqins Beiträge hervorhob, die er bisweilen wörtlich zitierte. Chen nippte an seinem Weinglas und lauschte stumm, bis Yu mit seinen Ausführungen über Frau Liu zu Ende war.
»Was hältst du denn nun von ihren ständigen Fahrten nach Shanghai?«
»Schwer zu sagen, Chef. Jedenfalls scheint mir das nicht bloß eine Flucht aus dem ungeliebten Wuxi zu sein. Peiqin meint auch, dass mehr dahintersteckt. Nur hier in Shanghai kann Frau Liu ihr Image von der erfolgreichen Unternehmersgattin aufrechterhalten. Äußerer Schein und die Anerkennung durch andere sind ihr offenbar sehr wichtig.« Und dann fügte Yu noch hinzu: »Bei Fu liegt die Sache anders.«
»Inwiefern?«
Yu fasste zusammen, was er und Peiqin von ihrem Beobachtungsposten auf der Nanjing Lu aus gesehen hatten.
»Ich habe ein paar Fotos vom ihm und dem Mädchen gemacht«, fuhr Yu fort. »Peiqin veräppelt mich bereits als Privatdetektiv. Das ist übrigens ein gefragter Job hier in der Stadt. Der Alte Jäger überlegt sich ernsthaft, ob er eine zweite Laufbahn einschlagen soll.«
»Gute Idee. Heutzutage gibt es genug reiche Ehefrauen, die wegen ihrer untreuen Ehemänner solche Dienste in Anspruch nehmen. Und dein Vater ist erfahren und rüstig – ein alter Jäger im wahrsten Sinne des Wortes. Warum also nicht?«
»Noch was anderes, Chef. Peiqin und ich haben Herrn Gu von der New World Group angerufen. Seines Erachtens nach ist an dem geplanten Börsengang der Chemiefabrik Nr. 1 in Wuxi nichts Ungewöhnliches. In der Regel läuft es so, dass das ranghöchste Parteimitglied den größten Aktienanteil erhält, sobald ein Staatsbetrieb an die Börse geht. Aber er wird sich noch mal genauer umhören.«
»Vielen Dank für alles. Ihr wart großartig«, sagte Chen. »Bitte gib das auch an Peiqin weiter.«
Anschließend versuchte der Oberinspektor, die neuen Informationen in sein Puzzle einzufügen, aber es gelang ihm nicht. Dieses ergebnislose Spekulieren frustrierte ihn, und er fühlte sich plötzlich müde und ausgebrannt. Vielleicht war er tatsächlich urlaubsreif.
Nach einem vergeblichen Anruf in Shanghai machte er sich eine Tasse »Wolken und Nebel«-Tee in der Hoffnung, dass die frischen Teeblätter ihn beleben würden. Als auch das nichts half, braute er sich noch eine Kanne starken Kaffee. Er würde heute ohnehin nicht früh ins Bett kommen. Jetzt, wo die Innere Sicherheit dabei war, den Fall zum Abschluss zu bringen, musste auch er alles tun, was in seinen Kräften stand. Mit dieser Überlegung goss er sich eine weitere Tasse Kaffee ein.
Dann kam ihm ein Gedanke. An jenem Abend hatte auch Liu zu arbeiten versucht. Vermutlich war er allein im Apartment und war zwischendurch kurz eingedöst. Allerdings hatte er zunächst wohl keine Schlaftabletten genommen – zumindest nicht so früh. Denn wenn man eine halbe Stunde einkalkulierte, bis sie wirkten, hätte Liu sie bereits gegen neun nehmen müssen oder sogar noch früher. Höchst unwahrscheinlich für einen Mann, der sich vorgenommen hatte, bis spät in die Nacht an wichtigen Dokumenten zu arbeiten.
Und noch etwas anderes stimmte nicht. In dem Apartment stand keine Tasse. Auch Chen hatte Tabletten schon ohne Flüssigkeit hinuntergewürgt, aber nur, wenn es gar nicht anders ging – in überfüllten Zügen zum Beispiel. Es war jedoch schwer vorstellbar, dass Liu so etwas in der eigenen Wohnung tat.
Bei einem spontanen Totschlag tötet der Mörder sein Opfer mit der nächstbesten Waffe und flieht mit ihr vom Tatort. Eine Tasse wäre allerdings zu leicht für einen tödlichen Schlag. Laut Autopsiebericht war Liu mit einem schweren Gegenstand ermordet worden. Aber was war ausreichend schwer und stumpf und fehlte am Tatort?
Wieder versuchte Chen, Jiang in den Ablauf einzufügen. Eine spontane Tat war ja vorstellbar, doch das traf auf jeden anderen unerwarteten Besucher ebenfalls zu. Aber die Schlaftabletten sprachen gegen ein spätabendliches Treffen. Und für die fehlende Tatwaffe gab es keine Erklärung.
Plötzlich verspürte Chen leichte Übelkeit und Schwindel, vermutlich eine Folge von zu viel Kaffee auf leeren Magen.
Er gönnte sich eine weitere Pause und blickte, ans offene Fenster gelehnt, hinaus. Um diese Jahreszeit waren die Tage lang.
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