Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
dass dieser Tag, der so unselig begonnen hatte, endlich enden würde.
Erst allmählich drangen die vertrauten abendlichen Geräusche in ihr Bewusstsein, der Küchenlärm und der beißende Geruch des Stockfischs aus dem zischenden Wok einer Nachbarin.
Wieder dachte sie an Chens Besuch am vorigen Abend.
Würde er auch heute an ihre Tür klopfen? Sie glaubte es nicht, aber sie wünschte es sich.
Endlich stand sie auf, zog ihren Bademantel an und ließ sich auf den Stuhl sinken, den sie gestern ihm überlassen hatte. Die Füße legte sie aufs Bett. Dabei entdeckte sie einen roten Fleck über ihrem linken Knöchel und einen weiteren an der rechten Ferse. Während sie sich kratzte, überlegte sie, ob das vom Seewasser kam, das, wie sie Chen selbst erklärt hatte, für den menschlichen Gebrauch nicht geeignet war.
Bilder vom gestrigen Abend stiegen aus der Stille ihres kleinen Kämmerchens auf. Chen hatte den Blick kaum von ihr wenden können, schien versucht gewesen, den Gürtel ihres Bademantels zu lösen …
Im Grunde hatte sie keine Ahnung, wer er eigentlich war. Mit Sicherheit nicht der büchernärrische Schullehrer, der zu sein er vorgab. Schon eher ein aufsteigender Kader mit außergewöhnlich guten Verbindungen, einer der »Gewinner« der heutigen Gesellschaft. Dadurch ließen sich viele seiner rätselhaften Verhaltensweisen erklären. Aber warum verheimlichte er ihr seine wahre Identität?
Doch dann musste sie sich eingestehen, dass auch sie ihm nicht alles über sich erzählt hatte.
Ganz gleich, ob er ihr helfen konnte oder nicht, sie musste ihn heute Abend sehen. Sie brauchte jetzt, ganz dem Klischee entsprechend, eine starke Schulter, an der sie sich ausweinen konnte.
Dabei fiel ihr Jiang ein, der in keinerlei Klischee passte. Eigentlich hatte sie nicht mehr an diesen Mann denken wollen, aber es gelang nicht. Für einen Mörder hatte sie ihn nie gehalten.
Erst recht nicht, nachdem sie die Termine in der Firma überprüft hatte. Mehr denn je war sie nun davon überzeugt, dass es bei der von der Inneren Sicherheit lancierten Lösung letztlich um Politik ging.
Jiang hatte das vermutlich seit langem kommen sehen. Er hatte offen mit ihr über die gefährliche Lage gesprochen, in die er sich selbst gebracht hatte. War er deshalb so bereitwillig auf ihre Trennungsabsichten eingegangen? Und es war auch nicht allein seine Schuld, dass sie nun ebenfalls in Schwierigkeiten steckte. Er hatte sich einfach zu weit vorgewagt in seinen Bemühungen für die Umwelt. Eigennutz hatte dabei jedenfalls keine Rolle gespielt.
Dann schob sie diese Gedanken weg.
Sie hatte andere Pläne für den Abend.
15
AM SPÄTEN SAMSTAGNACHMITTAG beschloss Chen, eine Pause einzulegen. Er machte das Fenster auf und ließ es offenstehen.
Draußen raschelte leise das Laub, der See dehnte sich bis zum Horizont, in der Ferne sprang ein einzelner, silbrig glänzender Fisch aus dem dunklen Wasser.
Während er den See betrachtete, klopfte er sich eine Zigarette aus der Packung.
Er hatte den Großteil des Tages in der Villa zugebracht und über das Material nachgedacht, das er bislang zusammengetragen hatte, nur kurz unterbrochen von dem Mädchen, das das Frühstück und anschließend seine Kräutermedizin brachte.
Direktor Qiao war übers Wochenende verreist, und der Oberinspektor konnte mit zwei ruhigen Tagen rechnen.
Doch seine Mühe hatte bislang wenig gefruchtet. Er starrte den übervollen muschelförmigen Aschenbecher auf der Fensterbank an, aus dem die Zigarettenkippen zurückstarrten wie die Augen toter Fische.
Noch immer konnte er nicht mit Sicherheit ausschließen, dass Jiang der Mörder war. Natürlich hatte die Innere Sicherheit politische Gründe, aber sie hatte auch Indizien, Zeugen und mit dem misslungenen Erpressungsversuch sogar ein plausibles Motiv. Chen dagegen hatte nichts als unbestätigte Theorien.
Natürlich ließ sich das damit entschuldigen, dass er hier nicht als Polizist auftreten durfte und ihm die Hände gebunden waren. Er musste sich allein auf Vermutungen stützen – noch dazu unbestätigte Vermutungen.
Chen pfiff geistesabwesend vor sich hin, während er ein Glas Rotwein einschenkte, dem Etikett nach ein Bordeaux, den ihm die Geschäftsleitung in Anerkennung seines Sonderstatus hatte zukommen lassen.
In sein Weinglas starrend, fühlte er, wie er sich nach ihr sehnte.
Shanshan war die Einzige hier, deren Zuwendung nicht seinem Status galt. Seine wahre Identität hatte er ihr ja nicht ganz grundlos
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