Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
betrachten, so wie sie es in ihrer knappen Botschaft vorgeschlagen hatte, war eine Möglichkeit. Keine Verpflichtungen. Kein weiteres Engagement. Sie hatten nicht über die Zukunft gesprochen. Er würde sein Wort halten und den Ordner mit nach Shanghai nehmen. Dennoch war er nicht in Zugzwang, etwas Konkretes zu unternehmen. Auf lange Sicht würde der Oberinspektor seinem Land und seinem Volk am besten dienen, indem er seine Aufgabe als Polizeibeamter auch weiterhin gewissenhaft erfüllte.
Andererseits konnte er auch versuchen, ihr in der derzeitigen Krise beizustehen. Er wähnte sich durchaus in der Lage, sie aus den Fängen der Inneren Sicherheit zu befreien, in die sie wegen ihrer Verbindung mit Jiang geraten war. Zumal ihre angebliche »Kollaboration« nicht wirklich schwerwiegend war. Jiang würde in jedem Fall verurteilt werden. Im Notfall könnte er in dieser Angelegenheit, da sie ihm schließlich während seines Erholungsaufenthalts begegnet war, immer noch den Genossen Parteisekretär Zhao um Hilfe bitten – eine Option, die Chen allerdings lieber vermeiden wollte.
Eigentlich müsste er sich weiterhin für Jiang einsetzen, wie er es ihr versprochen hatte. Vorausgesetzt, Jiang war unschuldig. Doch Chen hatte Zweifel, ob sein Einfluss dafür ausreichen würde. Hier handelte es sich nicht um einen simplen Mordfall, noch dazu war er außerhalb seines Zuständigkeitsbereichs geschehen.
Sich für Jiang einzusetzen würde außerdem bedeuten, einem potentiellen Rivalen in die Hände zu spielen.
Doch Chen verbat sich diesen Gedankengang sogleich wieder. Wenn er seinen Plan aus solchen Erwägungen aufgab, wäre er ihrer nicht würdig und als Polizist nicht glaubhaft.
Das größere Hindernis war, dass er hier nicht im eigenen Revier agierte. Eine Konfrontation mit der Inneren Sicherheit würde nichts bringen, zumal sie Chen, der sich diesen Leuten schon mehrfach in den Weg gestellt hatte, ohnehin im Visier hatte. Über sogenannte Staatsgeheimnisse ließe sich mit denen nicht reden; diese wurden allein von den Interessen der Partei diktiert – und damit von der Inneren Sicherheit.
Auch auf die Kollegen im Präsidium von Wuxi konnte er keinen Druck ausüben. Er würde sich nicht einfach in deren Ermittlungen einschalten können. Dort würde die Ausrede von der »Sondermission« im Auftrag von Genosse Parteisekretär Zhao, die er Huang gegenüber gebraucht hatte, nicht greifen.
»Zimmerservice, mein Herr …«
Ein junges Mädchen brachte ihm sein Frühstückstablett und die Thermosflasche mit der Kräutermedizin. Es schien die Veränderung im Raum sofort wahrzunehmen und lächelte vielsagend.
»Danke.«
Er schüttete den bitteren Sud in wenigen großen Schlucken hinunter, während er ihm nachsah.
Dann wählte er Shanshans Nummer, aber sie hatte ihr Handy abgeschaltet.
Ein weiterer Besuch in ihrem Wohnheim wäre sicher keine gute Idee; vermutlich wurde es von der Inneren Sicherheit überwacht.
Stattdessen machte er sich auf den Weg zu Onkel Wang, wo er abwarten und vielleicht etwas über sie erfahren konnte. Er nahm die Aktenmappe aus weichem Leder mit – ein Geschenk des Erholungheims – und packte einige Fotos und anderes Material hinein. Ganz gleich, was der Tag bringen würde, auf diese Weise konnte er seine Zeit sinnvoll nutzen, während er auf ein Lebenszeichen von Shanshan hoffte.
An diesem Morgen erschien ihm die mittlerweile vertraute Strecke zu dem kleinen Lokal unendlich monoton. Tief in Gedanken trabte er dahin, ohne seine Umgebung wahrzunehmen.
Plötzlich kam ein dunkelbraunes Kabrio von hinten heran und raste an ihm vorbei. Der junge Fahrer winkte ihm gönnerhaft zu, während seine Mitfahrerin, ein mageres junges Mädchen in hellblauem Sommerkleid, ihre nackten Beine seitlich aus dem Auto baumeln ließ.
Zu seiner Überraschung kam das Gefährt mit kreischenden Bremsen zum Stehen und setzte dann ein paar Meter zurück. Der Fahrer sah sich über die Schulter nach Chen um.
»Mein Vater wohnt auch im Erholungsheim«, erklärte er mit stolzem Grinsen. »Möchten Sie mitfahren?«
Einer dieser Prinzlinge also – Sprössling eines hohen kommunistischen Kaders. Chen kannte deren Methoden. Vermutlich genoss der Vater einen kostenlosen Ferienaufenthalt und hatte gleich die ganze Familie mitgebracht.
»Nein, danke.«
»Wir wohnen in der Villa neben Ihrer. Gar nicht so schlecht die Unterbringung, aber in diesem Erholungsheim ist einfach nichts los. Bloß Greise und Hirntote. Da müssen wir uns
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