Töte, Bajazzo
zählte nur das.
Sie schaute ins Leere. Die anderen Fahrzeuge nahm sie nicht wahr. Und es interessierte sie auch nicht, daß der Fahrer oft lebensgefährliche Überholmanöver einleitete, sie wollte so schnell wie möglich ihr Elternhaus erreichen.
Immer wieder sah sie es vor ihren geistigen Augen. Früher hatte ihr die unmittelbare Nachbarschaft des Friedhofs nichts ausgemacht, an diesem Tag allerdings fürchtete sie sich vor dem Gelände, auf dem die Toten lagen.
Tot ist tot – oder…
In der letzten Zeit waren ihr Zweifel gekommen, wenn sie an das Gesicht und die Gestalt des Bajazzo dachte. Das war kein lebender Mensch gewesen. Er hatte im Zug gesessen und war von einer Sekunde zur anderen verschwunden.
Ein Gespenst…
Sie schluckte und fror. Gespenstergeschichten hatten sie sich als Kinder oft erzählt. Da hatten sie dann auf dem Friedhof zusammengehockt, dicht bei den hohen Grabsteinen, und hatten darüber gesprochen, daß die Geister der Toten an ihnen vorbeiflogen, um sie mit ihrem kalten Jenseitshauch zu berühren.
Damals hatten sie darüber gelacht oder sich bei den Gedanken geschüttelt, anschließend konnten sie wieder in die heile Welt ihrer Elternhäuser zurückkehren.
Das lag lange zurück, das war heute vorbei. Aus den Kindern waren erwachsene Menschen geworden, und die alten Geistergeschichten zählten nicht mehr.
Nie hätte sie gedacht, daß sich diese und ähnliche Dinge einmal erfüllen würden, denn auch die Gestalt und das maskenhafte Gesicht gehörten in die Rubrik Gespenster und Geister. Nur waren die leider real, und die Frucht vor ihnen wuchs immer mehr bei Mirella an. Irgendwann würde sie kippen, dann war sie soweit, daß sie auf der Stelle stand und nichts anderes tun konnte, als zu schreien.
Auf einmal fühlte sie sich im Taxi unwohl. Es kam ihr wie ein Gefängnis vor, in dem sie nichts mehr zu sagen hatte. Wenn sie aus dem Fenster schaute, dann sah sie die langen Schatten der Dämmerung immer dichter werden und lautlos herantreiben. Der Abend brach an, die Nacht würde folgen, und das genau war ihre Zeit. Da kamen die Seelen der Toten aus den Gräbern, da…
»Hör auf!« sagte sie zu sich selbst. »Das sind Kindergeschichten, die wir uns damals erzählt haben.«
»Ist was, Signora?«
»Nein, fahren Sie bitte weiter.«
»Naturalemente.«
Für die Landschaft hatte Mirella keinen Blick mehr. Sie starrte auf die Nägelihrer Finger, sie wollte gar nicht nach draußen schauen, aus Angst, daß plötzlich wieder dieses bleiche Bajazzo-Gesicht erschien und sie erschreckte. Was hatte sie ihm nur getan?
Ja, da war etwas gewesen, und es lag schon ziemlich lange zurück. Ein junger Mann, Franco Romero. Er war einmal irrsinnig in sie verliebt gewesen, aber mit siebzehn hatte sie am Beginn ihrer Karriere gestanden und hatte sich keine festen Verbindungen erlauben können.
Sehr genau erinnerte sie sich jetzt.
Zum erstenmal auf der Bühne.
Zum erstenmal die Nedda singen, die Frau des Bajazzo. Heute lächelte sie über ihren Gesang, doch auf der Bühne ihres Heimatortes war sie schon damals ein Star gewesen, und nach der Vorstellung hatten ihr alle zugejubelt, auch ein Agent, der für die großen Opernhäuser des Landes unterwegs war, hatte seine Begeisterung nicht unterdrückt. Er hatte von einem tollen Erfolg gesprochen, wenn sie genau den Weg ging, den er ihr vorschlagen würde.
Mirella hatte ihm vertraut und nichts bereut. Er hatte ihr die großen Bühnen der Welt eröffnet, und irgendwann war sie auch mit ihm ins Bett gegangen.
Das alles hatte ein gewisser Franco Romero erfahren. Er, der Junge aus dem Dorf, der so unsterblich in sie verliebt gewesen war, hatte sich das Leben genommen.
Sie hatte damals in Rom gelebt und es durch einen Anruf ihres Vaters erfahren. In einem langen Abschiedsbrief hatte ihr Franco noch die große Liebe gestanden und gleichzeitig versprochen, daß er zwar tot, aber nicht aus der Welt war.
Sie würde noch von ihm hören.
Hatte sie von ihm gehört?
Zum erstenmal konnte sie die Furcht unterdrücken und wieder logisch denken. Sie erinnerte sich an den Bajazzo, wie er im Abteil gesessen hatte. Ein Toter?
Franco Romero vielleicht? Unsinn, er lag unter der Erde, er konnte nicht zurückkehren, nein, das mußte einen anderen Grund haben, obwohl die Zweifel blieben.
Lache, Bajazzo, dachte sie und schüttelte sich, denn das Lachen und der Tod flössen ineinander. »Wir sind da, Signora.«
Wie aus einem tiefen Traum erwachte die Sängerin, als der Fahrer
Weitere Kostenlose Bücher