Töte, Bajazzo
sie ansprach.
Es war noch nicht ganz dunkel, doch die Schatten lagen bereits über der Piazza am Kai. Lichter leuchteten, und der Fahrer ließ den Wagen langsam ausrollen.
»Nein, bitte nicht hier halten. Ich werde Ihnen den Weg erklären.«
»Gern.«
Es hatte sich nichts seit ihrem letzten Besuch verändert. Sie kannte noch den schnellsten Weg zum Friedhof und ließ den Fahrer dort halten, wo der Privatweg begann. Die Scheinwerferstrahlen schickten ihr Licht durch die Zaunlücken und erreichten auch die hohen Grabsteine, die in der kalten Helligkeit noch unheimlicher wirkten. Selbst der Fahrer bekreuzigte sich.
»Was ist denn?«
»Hier wohnen Sie?«
»Ja, es ist sehr ruhig. Was bin ich Ihnen schuldig?«
Der Mann rechnete kurz nach, und sie mußte noch fünfzigtausend Lire zahlen. Sie gab ihm sechzigtausend, stieg aus und hängte sich den Mantel über den Arm.
Der Fahrer wendete und raste zurück. Diese Umgebung schien ihm doch mehr als unheimlich zu sein.
Mirella Dalera blieb allein zurück. Sie atmete die frische Luft tief ein, und sie hoffte, daß ihr übliches Gefühl zurückkehrte, das sich immer dann einstellte, wenn sie die große, weite Welt verließ und nach Hause zurückkehrte. An diesem Abend tat sich nichts.
Einsam stand sie vor dem Beginn der schmalen Privatstraße, den Friedhof in unmittelbarer Nachbarschaft, und sie spürte die Kälte, die auf sie zukroch.
War es bereits die Kälte des Todes oder nur der normale Abendwind, der raschelnd mit dem alten Laub spielte und auch Blätter von den Bäumen riß?
Sie nahm ihren Koffer hoch und drehte sich um. Die letzten Schritte bis zur Haustür würden ihr schwerfallen, das wußte sie schon jetzt. Sie hatte kaum Licht hinter den Fenstern schimmern sehen, kein gutes Zeichen, das Elternhaus war verlassen.
Warum nur?
Diese Frage quälte sie und sorgte dafür, daß die innere Unruhe zur Angst wurde.
Der alte Friedhof lag wie ein schweigendes Meer an ihrer linken Seite.
Die hohen Denkmäler auf den Gräbern waren zu starren, bösen Schatten geworden, der Wind säuselte über das Gelände hinweg und spielte einel unheimliche Melodie.
Aber er sang nicht.
Und trotzdem hörte Mirella es.
Die Arie des Canio, der große Prolog.
»Hüll dich in Tand nur und schminke dein Antlitz… lache Bajazzo… lache Bajazzo…«
Sie drehte sich auf der Stelle. Der Koffergriff rutschte ihr aus der Hand, das Gepäckstück landete auf dem Boden. Sie spürte die Furcht wie Stiche, die sie von verschiedenen Seiten trafen. Dabei konnte sie keinen Menschen sehen, und doch hörte sie die Arie.
Woher kam sie?
Vom Friedhof? Waren die Toten einen der ihren losgeworden, damit er als Geist über die große Bühne des Friedhofs wehte?
Die Stimme sang noch immer. Sie war also vorhanden, Mirella bildete sie sich nicht ein. Sie sang die Arie weiter, sie wollte bis zum bitteren Ende, wo sie in Lachen und Weinen zugleich aufhörte, durchhalten. Nie zuvor hatte Mirella den Gesang so realistisch mitbekommen. Er bereitete ihr Angst, er drang in sie ein, er überschüttete ihr eigenes Ich, und sie konnte sich nur auf ihn konzentrieren.
»Lache, Bajazzo…« Auch sie sprach die beiden Worte nach, die als Echo zurückkehrten.
Nicht von ihr, sondern von ihm.
Ein anderes Echo, eine andere Bedeutung, und Mirella erstarrte fast zu Stein.
Nicht mehr das ›Lache Bajazzo‹, denn jetzt hieß der Text anders, nur ein Wort war verändert worden, und es traf voll zu.
»Töte, Bajazzo!«
Mirella Dalera taumelte zur Seite. Sie merkte kaum, daß sie gegen das Gitter fiel. Es gab ihr Halt und glich auch die Schwäche in ihren Knien aus.
Die Arie war verstummt!
Stille kehrte zurück. Die einsam am Gitter des Friedhofs lehnende Frau lauschte ihrem eigenen keuchenden Atem nach. Sie sagte nichts, sie starrte ins Leere, und sie spürte in ihrem Kopf den Druck.
Es war nicht mehr ihre Heimat, es war ein Ort des Todes und des Grauens geworden.
Tränen quollen aus den Augen, rannen über ihr Gesicht, und das Schluchzen schüttelte sie durch. Nie zuvor hatte sie eine derartige Einsamkeit verspürt. Sie war von allen verlassen worden, es gab keine Hoffnung mehr, nicht einmal die Flucht konnte sie retten. Das wußte sie plötzlich, und sie wußte noch mehr. Mit einer müden Bewegung stieß sie sich vom Gitter ab, drehte sich um und konnte zum Haus hinschauen, das in der Dämmerung zu einem kantigen Schatten geworden war, der auf sie den Eindruck einer gewaltigen Gruft machte.
Sie schaute hin, sie
Weitere Kostenlose Bücher