Töte, Bajazzo
konnte.
Über den Tischrand hinweg war sie geflossen und vergrößerte die Lache immer mehr.
Ich blieb daneben stehen. Im Magen lag der Druck, in der Kehle breitete sich ebenfalls eine gewisse Verstopfung aus. Dann schaute ich mir den Toten an.
Das Alter hatte sein Haar weiß werden lassen. Es bedeckte den Kopf wie ein Kranz. Der Mann hatte markante Gesichtszüge, und besonders das Kinn sprang hervor. Die leeren Augen in seinen Höhlen empfand ich als schrecklich. Es kam mir vor, als hätte man durch sie aus dieser Gestalt das Leben herausgesaugt, und die Haut war zu einer schlaffen Masse geworden. Ich legte meine Fingerspitzen auf seine Wange.
Der Körper war noch nicht ausgekühlt, ein Zeichen dafür, daß der Mann vielleicht vor einer halben Stunde noch gelebt hatte. Ich aber war zu spät gekommen, leider mal wieder, und ich wischte durch mein Gesicht, als könnte ich das schreckliche Bild vertreiben.
Es blieb.
Mein Polizistengehirn begann wieder mit seiner Arbeit. Automatisch stellte ich mir die Frage, ob sich der Mörder möglicherweise noch im Haus aufhielt und ob diese Leiche die einzige in dem doch ziemlich großen Gebäude war.
Mein Blick fiel auf die Treppe. Bevor ich in die oberen Etagen ging, wollte ich mich hier unten umschauen. Mehrere Türen standen zur Auswahl, und als ich die Gänge oder Korridore sah, da wurde mir klar, wie groß das Haus war – und still.
Nichts war zu hören.
Ich lauschte meinen eigenen Trittgeräuschen nach, aber auch die klangen gedämpft, weil ich mich entsprechend vorsichtig bewegte.
Immer wieder schluckte ich den eigenen Speichel, und auch immer öfter zuckte ich zusammen, weil ich irgendwo eine Bewegung, einen Schatten, wahrgenommen hatte.
Jedesmal täuschte ich mich, denn die eigene Phantasie spielte mir einen Streich. Es mochte auch daran liegen, daß die Dunkelheit draußen zunahm, der Wind aufgekomen war und mit dem Geäst der nahe am Haus stehenden Bäume spielte. Er bewegte es, und die Schatten fielen nicht nur gegen die Scheiben, sondern auch verzerrt in das Haus hinein, was mich manchmal irritierte.
Ich sah eine Küche, ich entdeckte Toiletten und Bäder, ich sah einen Wohnraum, ein Arbeitszimmer, einen kleinen Salon, aber ich entdeckte keinen Menschen.
Weder eine lebende noch eine tote Person, und so ging ich wieder zurück in die Halle.
Dort lag die Leiche auch weiterhin auf dem Tisch. Am Kamin blieb ich stehen. Es war dunkler geworden, und die Schatten hatten sich in den Ecken eingenistet. Niemand hatte während meiner Abwesenheit die Halle betreten. Warum, zum Teufel, glaubte ich dann, nicht allein zu sein und unter Beobachtung zu stehen?
Hatte sich bei mir nur das berühmtberüchtigte Gefühl gemeldet, oder steckte mehr dahinter?
Nein, hier lauerte eine andere Kraft, eine Macht, die nicht zu messen war, möglicherweise vom nahen Friedhof gekommen, ein Geist, der keine Ruhe gefunden hatte.
Ich bewegte mich weiter und hatte einen der Teppiche verlassen.
Deshalb beschwerten sich auch die Bodenbretter mit einem Krächzen, aber dieser Laut lockte niemand herbei.
Vor der Treppe blieb ich stehen. Noch einmal schaute ich zurück. Vor den Fenstern lag die Dunkelheit. Sie ballte sich dort zusammen wie ein dichtes, graues Wollknäuel.
Ich stieg die Stufen hoch. Den Toten hatte ich nicht vergessen, und ich war gespannt, welche Überraschungen mir die oberen Etagen noch zu bieten hatten. Hoffentlich keine schlimmen.
Vor einem Gang wartete ich.
Direkt neben mir lag das Fenster. Ich blickte von hier aus über die Mauer des Friedhofs hinweg. Auch dieses Gelände war mittlerweile von der Dunkelheit in Besitz genommen worden. Sie hatte die hohen Grabsteine in Schatten verwandelt, die auch dem heranwehenden Wind widerstanden.
Auch hier oben gab es Türen, die ich der Reihe nach öffnete. Die Fenster waren durch die geschlossenen Läden undurchsehbar gemacht worden, die Zimmer lagen in stockiger Dunkelheit, so daß ich gezwungen war, das Licht einzuschalten.
Ich schaute gegen eine bunte Tapete mit fröhlichen Motiven. Hier konnte durchaus ein junges Mädchen gewohnt haben. Natürlich dachte ich an Mirella. Wahrscheinlich war das ihr Raum gewesen, bevor sie die große Karriere als Sängerin begonnen hatte.
Es war alles etwas muffig, klamm und feucht. Wenn ich genau hinschaute, entdeckte ich zwischen Decke und Wand erste feuchte Schimmelflecken. Der Nachbarraum mußte einem Jungen gehört haben.
Flugzeuge unter der Decke, eine aufgebaute Eisenbahn, ein
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