Töte, wenn du kannst!: Kriminalroman (German Edition)
kannst du nicht schlafen?«
Marie schüttelte den Kopf.
»Magst du noch einen Kakao?«
»Au ja!«
Es waren keine Vorräte mehr da, nur noch ein fertiges Kakaogetränk, das eigentlich für morgen gedacht war. Lillemor schüttete es in ein Glas und erwärmte es in der Mikrowelle. Marie blätterte in den Heften, die neben dem Laptop lagen.
»Da sind ja gar keine Bilder drin.«
»Nein, keine Bilder«, sagte Lillemor. »Das hat deine Oma geschrieben. Lange bevor sie gestorben ist. Man nennt es ein Tagebuch, wenn man aufschreibt, was einem so passiert.«
»Was ist ihr denn passiert?«
»Och, vieles. Man schreibt jeden Tag oder jede Woche auf, was los war und was einen beschäftigt hat.«
»Das will ich auch«, sagte Marie.
»Wenn du erst in der Schule bist und schreiben gelernt hast, dann kannst du auch ein Tagebuch führen.« Sie stellte den Kakao vor Marie hin. »Hast du schon entschieden, welche von deinen Tieren du mitnehmen möchtest?«
Marie trank, dann schüttelte sie den Kopf.
»Alle!«
»Man darf im Flugzeug aber nicht so viel Gepäck mitnehmen. Sonst wird es zu schwer und fliegt nicht mehr.«
»Alle!«, kam es heftig, und der nackte Fuß patschte zornig auf den Boden.
»Gut. Aber dann musst du sie in deinen Rucksack packen und ihn selbst tragen.«
Marie nickte. Sie hatte ausgetrunken, und Lillemor nahm sie auf den Arm und trug sie nach nebenan, wo sie ohne Widerrede unter die Bettdecke schlüpfte.
»Und jetzt schlaf. Morgen musst du fit sein, es ist eine lange Reise.«
»Wie lange?«
»Sehr lange«, sagte Lillemor.
Sie ging zurück in die Küche und klappte den Laptop auf. Bis hierher war es nicht schwer gewesen. Zwar waren die Tagebücher ihrer Mutter recht lückenhaft, doch vieles hatte sie durch das, was Camilla ihr im Lauf der Jahre erzählt hatte, ergänzt. Aber nun, da es mehr und mehr um sie selbst ging, wurde es schwieriger. Im Gegensatz zu Camilla hatte Lillemor nie Tagebuch geführt. Sobald ihr Wortschatz groß genug gewesen war, um ihre Gedanken auszudrücken, hatte sie nur Geschichten geschrieben, die ihrer Phantasie entsprungen waren, allenfalls beeinflusst von dem, was sie zu lesen bekam. Angefangen hatte es schon in der dritten, vierten Klasse. Doch auf die Idee, ihr reales Leben aufzuschreiben, wäre sie damals nie gekommen. Was hätte es da auch zu erzählen gegeben?
Das war jetzt anders. Sie schrieb weiter.
… Lillemor war fünfzehn und in ihrem letzten Schuljahr, als sie eines Tages nach Hause kam und Camilla vor dem Tor stand. Obwohl der Himmel wolkenverhangen war, trug sie eine große Sonnenbrille und zuerst dachte Lillemor, dass etwas Schlimmes passiert wäre, das Haus abgebrannt, jemand gestorben oder schwer krank, denn ihre Mutter hatte sie noch nie von der Schule abgeholt, nur am allerersten Tag. Sie setzte Lillemor in ein Taxi und sie fuhren zum Bahnhof, wo der Fahrer zwei große, schäbige Koffer auslud, die Lillemor noch nie zuvor gesehen hatte. Lillemor fragte nach ihrem Bruder, aber Camilla sagte, der ginge sie ab sofort nichts mehr an. Sie fuhren eine Ewigkeit mit dem Zug, aber vielleicht kam die Reise Lillemor auch nur so ewig vor, weil sie schrecklich hungrig war und Camilla nicht an Reiseproviant gedacht hatte. Aber Lillemor hatte andere Sorgen. Sie fragte sich, ob ihre Mutter auch die Hefte mit ihren Geschichten eingepackt hatte. Angeblich ja, aber bei Camilla wusste man nie.
Dann wohnten sie wieder im Haus von Lillemors Großmutter Ulrika auf Öckerö. Der Großvater, an den sich Lillemor noch gut erinnerte, war nicht mehr da. Gestorben. Nur die Bank gab es noch, und das Meer und die Steine und den Himmel.
Selma stand rauchend vor dem Valand-Club in der Vasagatan und beobachtete den Verkehr. Dies war nicht die Art Nachtklub, die sie bevorzugte, aber sie hatte auch nicht vor, dort hineinzugehen, obwohl ihr ein wenig kalt war. Um nicht zu frieren, lief sie die Straße auf und ab, bog um die Ecke, kehrte wieder um, machte dann dieselbe Runde noch einmal. Für einen gewöhnlichen Mittwochmorgen um halb vier war einiges los in der Innenstadt. Hängt vielleicht mit der Buchmesse zusammen, die morgen anfängt, überlegte Selma und musste über sich selbst den Kopf schütteln. Buchmesse. Seit wann interessierte sie das? Aber sie hörte sich ja auch neuerdings Podcasts von Literatursendungen an.
In einer Stunde, um fünf Uhr, würden die Klubs der Innenstadt schließen. Dann fuhren auch wieder die Straßenbahnen, aber jetzt war Hochbetrieb für Taxis und vor
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