Töten Ist Ein Kinderspiel
ganz schnell: Wie er ihr den Flanellstoff zerriss und endlich ihre Brüste zu fassen bekam. Wie er ihr die Hand auf den Mund presste und gleichzeitig versuchte, in sie einzudringen, solange, bis sie aufhörte, sich zu wehren, bis sie sich ihm kraftlos überließ und er in ihr triumphierte.
Irgendwann später hatte er wieder auf seiner Bettkante im Studentenwohnheim gesessen und auf seine Schuhe gestarrt. Sich geduscht und sich einzureden versucht, dass sie es so und nicht anders gewollt hatte. Dass sie ihm verzeihen müsse, weil er ihr verfallen war.
Warum eigentlich?
Erika Klinger war unnahbar gewesen. Sie strahlte jene Unberührbarkeit aus, die Männer wie Estebán Valero anzog und verrückt machte. Was auch immer er getan hatte – sie hatte ihm kaum Beachtung geschenkt. Erst als er ihr angeboten hatte, sie mit Pinochet-kritischen Mitgliedern der Evangelischen Kirche in Chile in Kontakt zu bringen, hatte sie ihm Gehör geschenkt. Von da an trafen sie sich regelmäßig, um im wahrsten Sinne des Wortes über Gott und die Welt zu reden. Zum ersten Mal hatte Estebán Valero, der selbst aus einer der besser gestellten Familien Santiagos stammte, das Gefühl, im echten Leben angekommen zu sein. Die junge deutsche Theologin und der noch jüngere chilenische Germanistikstudent wurden einen Winter lang ein ungleiches Paar: Erika dozierte, und Estebán gab vor, zu verstehen. Sie träumte von einer Vernetzung der deutsch-chilenischen Protestanten, und er hielt sie mit erfundenen Namen und Aktionen hin. Fantasierte sich in eine Widerstandsbewegung, die nur in seinem Kopf existierte. Bis zu dem Tag, an dem er sich verriet und Erika bemerkte, dass er nicht einmal wusste, dass es mit dem Militärputsch in Chile zum Bruch innerhalb der lutherischen Kirche gekommen war und es seither zwei Stränge gab: die regierungstreue Iglesia Luterana en Chile und die Iglesia Evangélica Luterana en Chile. Letztere war wie Erika Klinger der Meinung, die Kirche müsse Flüchtlingen und politisch Verfolgten helfen und gegen soziale Ungerechtigkeit kämpfen.
„Du hast überhaupt keine Ahnung, wie es in deinem Land aussieht!“
„Nein.“
„Warum lügst du mich dann an?“
„Weil ich wissen will, wie es in dir aussieht.“
Er fand, dass er ihr eine Liebeserklärung gemacht hatte. Sie fand sein spätes Geständnis unerträglich.
„Was ist so schlimm daran, dass ich mich in dich verliebt habe?“
„Nichts. Aber erstens interessiert es mich nicht und zweitens hast du mein Vertrauen missbraucht.“
Sie wandte sich von ihm ab, und er hatte sie nur noch mehr gewollt. Je mehr sie sich zurückzog, umso entschlossener suchte er ihre Nähe.
„Lass mich in Ruhe.“
„Ich liebe dich.“
„Du weißt doch gar nicht, was Liebe ist. Du bist doch nur an dir selbst interessiert!“
All das war ihm im Kopf herumgegangen, als er schließlich im Morgengrauen seinen Koffer genommen hatte und in den Zug zum Frankfurter Flughafen gestiegen war. Ja, er hatte die Kontrolle verloren, hatte sie verletzt. Aber er würde alles tun, damit sie ihm verzeihen würde. Beweisen wollte er ihr, dass er sehr wohl wusste, was Liebe war. Wiederkommen, sie heiraten und ein Kind mit ihr haben. Da war er ganz sicher gewesen.
Fast zwanzig Jahre später stand Estebán Valero mit pochendem Kopf und klopfendem Herzen in Berlin vor einem Altbau und suchte nach dem Klingelschild der Wohnung, in der sein Sohn ihn erwartete.
Fünfzehn
Aufstehen, essen, arbeiten, schlafen. Nach den Nachtschichten zwei Tage frei. Einkaufen, spazierengehen, lesen. Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Ostern ’72, Grenzübergang Sonnenallee: Die DDR zeigte sich zum ersten Mal für Westberliner ohne Passierschein offen, und ich wollte sehen, wo Charlotte wohnt. Drei Stunden später war ich wieder auf der sicheren Seite. Ich hatte es nicht weit geschafft, war nur ein wenig mit der Straßenbahn herumgefahren, auf der Suche nach etwas, das ich nicht wirklich benötigte. Mir schienen die Häuser im Osten dunkler und der Flieder weißer, die Menschen so fremd wie meine Nachbarn. Ich kehrte nach Hause zurück und stellte fest, dass ich der Welt abhanden gekommen war, ganz gleich in welche Himmelsrichtung ich mich drehte. Die Zeitungshändlerin grüßte mich, der Hauswart freute sich, wenn ich die Treppe zu meiner Zweizimmerwohnung im dritten Stock eines Neuköllner Hinterhauses putzte, der Bäcker kannte meinen Geschmack und verkaufte mir immer das dunkelste Graubrot von allen. Und doch trieb ich
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