Toggle
Holzwanger konnte auf allen drei Etagen die Türen mit seiner Karte öffnen.
Er war jetzt Herr über 160 Angestellte.
Ein leichtes Frösteln überkam ihn, während er die leeren Flure zu Melissas Zimmer entlangschritt. Dort schaltete er alle verfügbaren Lampen an und begann, mehrere Schichten Nippes von den Regalen abzutragen und in den Papierkorb zu werfen. Er kam sich wie ein Grabschänder vor.
»Tut mir leid, Melissa«, murmelte er. »Aber das halte ich keinen Tag aus! Früher hat mich dein Kitsch geärgert, jetzt deprimiert er mich.«
Nach mehreren Märschen zum Hauptmüllcontainer im Putzraum starrten ihn leere Regale an. Bedrückt sah er zu Melissas Schreibtisch hinüber. Dort stand immer noch ihr ganz persönlicher Computer. Er musste ihn jetzt hochfahren.
Im Gegensatz zum Chaos auf ihrem Schreibtisch war Melissaselektronischer Desktop vorbildlich aufgeräumt. Alle Toggle-Projekte lagen in eigenen Unterordnern, doch verbargen sie keinerlei Enthüllungen. Jedenfalls nicht, soweit seine Stichproben reichten. Eher unbeabsichtigt klickte er auf ein unscheinbares grafisches Symbol. Kannte er es nicht irgendwoher?
In einem separaten Fenster öffnete sich jenes Proggie, das er sechs Wochen zuvor selbst entwickelt und dann im Trubel um Toggle Books wieder vergessen hatte. Hatte er Melissa eine Kopie davon überlassen? Oder war sie heimlich an seinen Computer geschlichen und hatte es sich auf einen USB – Stick gezogen?
Wie damals schwammen Kolonnen seltsamer Worte an ihm vorbei. Gilanstrosteida. Philoydia. Syndoneria. Alipodiana.
Plötzlich kam ihm eine Idee. Sie war so naheliegend, dass er sich wunderte, sie erst jetzt zu haben. Was passierte eigentlich, wenn er selbst eines dieser Worte in den Suchschlitz bei Toggle eingab?
Syn…do…ne…r…i…a .
Keine Fundstellen. Natürlich! Sein Proggie bezog sich ja exakt auf diesen Umstand. Allerdings irritierte ihn, dass die Suchmaschine keinerlei Alternativen vorschlug. Das tat sie sonst bei den abstrusesten Tippfehlern. Spielerisch nahm er den ersten Buchstaben des Kunstworts weg: yndoneria. Jetzt erwachte Toggle zum Leben: »Meinten Sie Döneria ?«
Das meinte Holzwanger zwar nicht, bekam aber dennoch zwei Fundstellen serviert. Die erste führte zu einem Szenesprachen-Wiki, die zweite zu einem Döner-Imbiss in Cuxhaven. »Willkommen in der Döneria«, verkündete der Link. »Der erste Kebabservice im Internet mit Königsfischdöner im Sesamschließdichteig.« Holzwanger klickte darauf.
Error 404 – file not found.
Dumme Spielerei.
Die Zeit lief Holzwanger davon, und er wusste nicht, wonach er überhaupt suchen sollte. Unstimmigkeiten, hatte Weinberger gesagt, abweichende Muster! Vielleicht sollte er den Bildschirm wie eine Röntgenaufnahme analysieren? Holzwanger kniff die Augen zu einem Schlitz zusammen, lehnte sich weit zurück und musterte die Ordnerstruktur auf dem Desktop noch einmal eingehend.
Toggle Democracy.
Das hatte er beim ersten Mal übersehen. Was war Toggle Democracy?
Er öffnete das betreffende Verzeichnis. Leer. In Valley Hills musste es gerade Mittag sein. Er wählte Weinbergers Nummer. Der Chefstratege war sofort dran.
»Nic! Schön, dass du anrufst. Was gefunden?«
»Kennst du ein Projekt Toggle Democracy?«
»Nie gehört. Hat es einen Registriercode?«
»Registriercode?«
»Alle offiziellen Arbeitsgruppen tragen einen Registriercode. Steht auf allen Rundmails, in allen Notizen, einfach überall.«
»Ich hab nur einen leeren Ordner mit dieser Beschriftung entdeckt.«
»Im Computer oder im Regal?«
»Im Computer.«
»Irrelevant«, tönte es enttäuscht aus dem Hörer. »Aktenordner beschriftet man, weil es etwas abzuheften gibt. Im Computer legt man auch Verzeichnisse an, die man nie füllt. Was verraten Melissas E-Mails?«
Holzwanger fühlte sich ertappt. »Die hab ich noch nicht angeschaut.«
»Tu das!«
»Vergiss nicht, ich bin jemand, der keinen Hinkenden überholt«, brachte Holzwanger zu seiner Entschuldigung vor. »Ich muss erst meine Schamgefühle überwinden, bevor ich zum Spitzel werde. War Melissa nicht überhaupt dein Patenkind?«, begehrte er plötzlich auf. »Du musst doch etwas über ihr Leben wissen!«
Der Bildschirm verwandelte sich in ein Aquarium. Ein paar sehr bunte Fische schwammen herum und glotzten Holzwanger mit stumpfen, großen Augen an.
»Nic, ich habe fünf Kinder, und ich weiß nicht mal, was die treiben«, erklang es aus dem Hörer. »Wenn mein ältester Sohn in Afghanistan fällt,
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