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Titel: Toggle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Felix Weyh
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verschwunden. Dann war es in einem Antiquariat in Brandenburg aufgetaucht, von dort ausnach Turin geflogen und befand sich somit in rettender Nähe eines Toggle-Scanners. Zur Sicherheit – weil man nie wusste, wie redlich sich Antiquare bei grenzüberschreitenden Geschäften verhielten, ob sie überhaupt lieferten oder nur Holzklötze verschickten – hatte der Mann seinen Handlanger umdirigiert, der eigentlich nur das Buch aus der Asservatenkammer sicherstellen sollte, und ihn nach Brandenburg geschickt, um dort dem Antiquar auf den Zahn zu fühlen. Ein bewährter Mitarbeiter in Turin kontrollierte die Zieladresse der Paketsendung. Einer der beiden würde das Buch zurückbringen. Alte Bücher lösten sich nicht in Luft auf.
    Der Mann starrte aus dem Fenster.
    Noch immer war die Landschaft von Felsen zerklüftet. Betrachtete man den Plan als einen Berg, den die Menschheit erklimmen sollte, so wies er in seiner ursprünglichen Form einen Steigungswinkel von wenigen Grad auf. Jedermann – der Älteste, Gebrechlichste, Schwächste – konnte diesen Berg besteigen. Wie eine gute Wanderkarte wies das Buch den leichtesten Weg zum Gipfel. Blieb es verschwunden, würde die Menschheit den Aufstieg auch wagen. Aber sie würde vermutlich davon deutlich mehr angestrengt sein.
    Der Mann packte sein Notebook aus und begann, an einem Text zu feilen, den er schon mehreren bedeutenden Zeitungen angeboten hatte. Zu seinem Erstaunen war er damit auf Interesse gestoßen. Das Indiz verriet, dass die Zeit für den Plan reif war.
    Herodot schrieb einst: »Würden alle Menschen das Gleiche zur gleichen Zeit wollen, und hätte dieses Gleiche die Substanz dieser Menschen, wäre eine solche Gewaltwolke aus Willenskraft allen Automaten und Aushilfen der Götter überlegen.« Ich gebe zu, dass ich als junger Mann davon beeindruckt gewesen bin – der Gedanke untermauerte meine trotzige Position, dass Glück aus Stärke resultiert und man Stärke nur in Gleichheit finden könne. Die sozialistische Utopie! Doch ein junger Mensch kann lernen. Die Gleichheit von Herodot ist dieselbe, die eine Brücke zum Einsturz bringt, wenn eine Kompanie Soldaten darüber marschiert. Gleichheit schafft Macht, aber diese Macht ist destruktiv und schwer zu steuern. Genauigkeit muss Gleichheit ersetzen. Ich war schon ein reifer Mann, als ich mir selbst erlaubte, einen missliebigen Denker zu lesen, um bei ihm jene Überlegung zu finden, die mich endgültig von Herodot erlöste: »Hier die Antinomie«, schrieb er. »Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich; im sozialistischen Zukunftsstaat sind alle Menschen gleich. Der Einwand: Dieses Postulat verkennt aber die faktische Ungleichheit der Menschen, ist insofern berechtigt. Wie ist die Antinomie zu lösen? Dadurch, dass wir uns davon überzeugen, dass Mensch in beiden Fällen etwas anderes heißt.« Das ist nicht einfach zu verstehen, eine hingeschluderte Tagebuchnotiz des Philosophen – aber sie enthält eine aufblitzende Wahrheit: Was der Begriff Mensch bezeichnet, hängt von den Umständen ab!
    Auf dem Handy des Mannes – einem alten Nokia mit schwarz-weißem Display, er mochte keine modernen Smartphones – flashte eine SMS auf. Sie bestand nur aus einem Wort. Der Mann glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können.
    Cenere.
    Asche?
    Zum ersten Mal seit Langem verlor der Mann die Contenance. Mit zitternden Fingern steckte er sich eine Zigarette an, ohne auf die zunächst verwunderten, dann erbosten, dann offen aggressiven Mienen seiner Mitreisenden Rücksicht zu nehmen.
    »Entschuldigen Sie«, begann eine ältere Frau. »Das ist hier Nichtraucher! Der ganze Bahnverkehr in Deutschland ist Nichtraucher!«
    Er würdigte sie keines Blickes.
    »No smoking!«, wiederholte die Frau drohend und deutete auf das Piktogramm an der Tür. Sie hielt ihn für einen begriffsstutzigen Ausländer. Er ignorierte ihr wilder werdendes Armgefuchtel. Als der Zugführer kam, hatte er längst entschieden, so zu tun, als verstünde er nichts. Die 50 Euro Strafe bezahlte er mit dem hilflosen Gestammel des Kretins.

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    66
   Haselmarsch
Mittwoch, 28.   Juli, 23   :   45
    Die Strecke von Mellau nach Haselmarsch betrug 900 Kilometer und hätte alle Zeit geboten, sich ausgiebig auszusprechen. Doch wie auf jeder Ferienreise verhinderte das Chaos im Sharan jegliches elterliche Gespräch. Solange Pia am Steuer saß, musste Holzwanger den Inhalt Mellauer Lunchpakete gerecht aufteilen, Streit schlichten, Rotz und Tränen

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