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Titel: Toggle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Felix Weyh
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abwischen, Kotztüten bereithalten, Fragen beantworten, Geschichten erzählen, Traumempfehlungen für den Mittagsschlaf abgeben und die Fahrerin mit koffeinhaltigen Getränken bei Laune halten. Als er endlich das Lenkrad übernahm, musste er endlose Hotzenplotz- und Harry-Potter- CD s über sich ergehen lassen, lustige Jahreszeitenlieder singen, Nummernschilder raten und tausend andere Dinge tun, die ein Gespräch unter Erwachsenen vereitelten. Bei alledem fühlte er sich seltsam beschwingt, weil er sich hier, im vitalen Zentrum seines Lebens, nicht vorstellen konnte, dass es jenseits seiner vier überdrehten Kinder etwas gab, das ihn bedrohte.
    Es war beinahe Mitternacht geworden, als Pia und er endlich nebeneinander im Bett lagen und einmal synchron aufstöhnten.
    »Das wäre geschafft«, sagte Pia. »So ein Wahnsinn! 900 Kilometer mit vier Kindern im Auto. Nächstes Mal fliegen wir.«
    »Nächstes Mal?«, gähnte Holzwanger.
    »Die Kinder wollen zurück nach Mellau. Außer Olga. Ich schätze, wir können uns das in den Weihnachtsferien aus eigener Tasche leisten.« Sie drehte sich zu ihm hin und küsste ihn. »Weißt du, ich habe wirklich schon gedacht, du kriegst die Kurve nicht mehr. Damals, als die Firma unterging, weil Varnotis die Rechnungen nicht bezahlen wollte, dann als du in Stuttgart den Ärger mit dem Betriebsrat bekamst … ja, ich gebe zu, sogar bei Toggle war ich am Anfang ziemlich nervös. Dass du dich in diese Kultur hineinfindest, erschien mir ganz unwahrscheinlich.«
    »Du hast gedacht, ich kann unsere Kinder nicht ernähren?«
    »Nur gefürchtet.« Pia schmiegte sich an ihn. »Aber damit ist es ja jetzt zum Glück vorbei! German Headquarter, Toggle Inc.«, sagtesie stolz. Dann seufzte sie leise: »Arme Melissa Stockdale.« Ein wenig Heuchelei schwang mit. Die Halbamerikanerin war ihr immer fremd geblieben.
    In dem Moment hörten beide eine Stimme rufen.
    »Olga«, meinte Pia. »Die Kinder sind komplett aus dem Rhythmus.«
    »Ich geh schon.« Holzwanger stand auf, schlüpfte in seine Pantoffeln und stapfte eine Treppe höher. Olga bewohnte das einzige Zimmer unter dem Dachfirst, eine enge, schrägwandige Kammer.
    Ein schöner Held bin ich, dachte er. Einer, bei dem man Angst haben muss, dass die eigenen Kinder verhungern.
    Pias Worte hatten ihn getroffen. Jetzt konnte er ihr erst recht nichts mehr von seinen Befürchtungen erzählen. Er musste bei Toggle derjenige werden, von dem sie immer gehofft hatte, dass er es schon längst war.
    Sachte schob er die angelehnte Tür zu Olgas Kammer auf. Die Dreizehnjährige lag mit geöffneten Augen im Bett und sah ihn an. »Papa, was heißt es, tot zu sein?«
    »Die Frage hast du mir zuletzt mit fünf gestellt«, antwortete ihr der Vater verwundert. »Als Opa Wolfsburg gestorben war.« Wie in den meisten Familien trugen die Großeltern bei Holzwangers geografische Zuordnungen.
    »Ich meine das jetzt aber anders. Kann jemand, der tot ist, in Myface weiterleben?«
    Holzwanger kannte dieses Portal nur sehr oberflächlich. Er hielt es für ein Sammelbecken von Pubertierenden, für Erwachsene irrelevant.
    »Ich fürchte, wir leben alle digital weiter«, erklärte Holzwanger. »Man muss sich wohl an den Gedanken gewöhnen, dass ein wachsender Teil des Internets aus Toten besteht. Aber eigentlich ist das nichts Neues. Der größte Teil der Filme, die du liebst, lässt längst Gestorbene auftreten. Bei Büchern ist das nicht anders. Du magst Autoren, die es schon lange nicht mehr gibt.«
    »Aber die reden nicht mit mir!«, widersprach Olga.
    »Das Internet redet auch nicht mit dir. Das kommt dir nur so vor.« Holzwanger nahm ihre Bettdecke und schüttelte sie auf. »Essoll allerdings Grabsteine mit Computerchips geben, die jeden anfunken, der mit einem Handy an ihnen vorbeigeht. Aber die reden auch nicht, sondern spielen nur Konserven ab. Tot ist auch heute noch so tot wie vor hundert Jahren, daran gibt es nichts zu rütteln.«
    Er sah seine Tochter verständnisvoll an. »Und Melissa ist tot.«
    Olga richtete sich im Bett auf und schlang ihre Arme um seinen Hals. »Ich find’s toll, dass du jetzt Toggle-Chef bist«, sagte sie schluchzend, denn sie hatte immer noch ein schlechtes Gewissen wegen ihres Auftritts vor Weinberger. »Aber das hast du nicht gewollt, oder?«
    »Nein«, sagte Holzwanger und löste sich sanft aus ihren Armen. »Das hab ich ganz gewiss nicht gewollt.«
    »Was war?«, fragte Pia, schon halb hinweggedämmert.
    »Philosophische Fragen«, brummte

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