Tokio Killer 01 - Der erste Auftrag
einem Fernseher neben der Kasse ihre eigenen Filme an. Und dann ist da noch die Oktopus-Frau, die vom Straßenfenster ihres alten Hauses aus Takoyaki verkauft – gebratenen Oktopus. Ihr Gesicht, müde von den vielen Jahren und der eintönigen Arbeit, ähnelt mittlerweile den Geschöpfen, die sie zu Mahlzeiten verarbeitet. Jeden Abend schlurft sie um ihren Herd, rührt mit unbewussten, monotonen Bewegungen in ihren Suppen, und wenn ich vorbeikomme, sehe ich manchmal kichernde Kinder vorbeirennen, die « Tako onna! Ki o tsukete!» flüstern. Die Oktopus-Frau! Pass auf! Und dann ist da das Haus von Yamada, dem Klavierlehrer, aus dessen Fenster an Sommerabenden, wenn es spät dunkel wird, sanfte Klänge dringen, träge die Straße hinuntertreiben und sich mit dem klatschenden Geräusch der Badelatschen vermischen, wenn die Menschen aus dem Sento kommen, dem Hallenbad.
An diesem Wochenende hörte ich mir Midoris Musik häufig an. Ich kam aus meinem Büro, setzte Wasser auf, um mir Ramen- Nudeln zu kochen, saß dann da bei gedämpftem Licht und lauschte, wie sich die Musik entfaltete, den Noten folgte. Während ich die Musik hörte und zum Balkonfenster hinaus auf die stillen, engen Straßen von Sengoku schaute, spürte ich die Gegenwart der Vergangenheit, fühlte mich jedoch vor ihr sicher.
Die Rhythmen und Rituale des Viertels, die zu Anfang für mich fast unmerklich waren, haben mich im Laufe der Jahre still und leise durchdrungen. Sie sind mir ans Herz gewachsen, haben mich infiziert, sind Teil von mir geworden. Für solche Genüsse ist es wohl doch kein allzu hoher Preis, einen kleinen Schritt aus der Dunkelheit hinauszutreten. Aufzufallen ist zwar in mancherlei Hinsicht ein Nachteil, aber es hat auch Vorteile. In Sengoku kann ein Fremder nirgendwo ungesehen auf einen lauern. Und bis abends die Läden schließen und die Wellblechrollos heruntergelassen werden, ist immer jemand draußen und wacht über die Straße. Wenn du nicht nach Sengoku gehörst, fällst du auf, und die Leute fragen sich, was du dort zu suchen hast. Wenn du dazugehörst – tja, dann wirst du irgendwie anders wahrgenommen.
Ich denke, damit kann ich leben.
6
IN DER WOCHE DARAUF verabredete ich mich mit Harry zum Lunch im Issan -Sobaya. Dieses kleine Rätsel würde mir keine Ruhe lassen, und ich wusste, dass ich Harrys Hilfe brauchte, um es zu lösen.
Das Issan ist ein altes Holzhaus in Meguro, knapp fünfzig Meter von der Meguro-dori und fünf Minuten Fußweg von der Station Meguro entfernt. In einem äußerst bescheidenen Ambiente bekommt man hier mit die besten Soba- Nudeln von ganz Tokio. Ich mag das Issan nicht nur wegen der ausgezeichneten Soba, sondern auch, weil es ein wenig schräg ist: Am Haupteingang steht zum Beispiel eine Vitrine mit Fundsachen, deren Inhalt sich in den zehn Jahren, seit ich das Restaurant kenne, nie geändert hat. Manchmal frage ich mich, was die Inhaber sagen würden, wenn ein Gast riefe: «Endlich! Da ist ja mein Schildpattschuhlöffel – den suche ich schon seit Jahren!»
Eine der zierlichen Kellnerinnen geleitete mich zu einem niedrigen Tisch in einem kleinen Tatami -Raum und kniete sich dann hin, um meine Bestellung aufzunehmen. Ich entschied mich für Umeboshi, eingelegte Pflaumen, damit ich etwas zu knabbern hatte, während ich auf Harry wartete.
Zehn Minuten später kreuzte er auf, von derselben Kellnerin eskortiert, die mich zu meinem Platz gebracht hatte. «Wäre ja auch zu schön gewesen, wenn du wieder das Las Chicas vorgeschlagen hättest», sagte er und musterte die alten Wände und verblichenen Schriftzeichen.
«Ich finde, es wird langsam Zeit, dass du das traditionelle Japan besser kennen lernst», sagte ich. «Ich finde, du verbringst viel zu viel Zeit in den Computerläden in Akihabara. Probier doch mal was Klassisches. Ich empfehle die Yuzukiri.» Yuzukiri sind Soba- Nudeln gewürzt mit dem Saft einer köstlichen japanischen Zitrusfrucht namens Yuzu und eine Spezialität des Issan.
Die Kellnerin kam wieder und nahm unsere Bestellung auf: zweimal Yuzukiri. Harry erzählte mir, er habe nichts besonders Aufschlussreiches über Kawamura zutage fördern können, nur allgemeine biographische Informationen.
«Er war praktisch sein Leben lang bei den Liberaldemokraten», sagte Harry, «1960 hat er an der Universität Tokio seinen Abschluss in Politologie gemacht und ist danach schnurstracks in den öffentlichen Dienst gegangen, zusammen mit dem Rest der Elite seines Jahrgangs.»
«Da könnten
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