Tokio Killer 04 - Tödliches Gewissen
Luft würde ihn zur Entfaltung bringen. »Mann, ist der gut«, sagte Dox, nachdem die Kellnerin den Wein geöffnet und dekantiert hatte und wir unseren ersten Schluck genommen hatten. »Ich weiß zwar nicht, wer Emilio ist, aber ich würde ihm gern mal die Hand schütteln. Wieso verstehst du so viel von Wein, Mann?«
Ich zuckte die Achseln. »So viel versteh ich nun auch wieder nicht davon.«
»Jetzt lass mal die Bescheidenheit. Ich merk doch, dass du was davon verstehst.«
Ich zuckte die Achseln. »In meinem Job muss ich mich in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Schichten unauffällig bewegen können. Da ist es ganz hilfreich, wenn man sich mit ein paar Sachen ein bisschen auskennt. Zum Beispiel mit Wein, oder welche Gabel man wann benutzt. Welches die passende Garderobe für welchen Anlass ist. Oder wie man Konversation macht. Keine Ahnung. Ich beobachte einfach und versuche zu lernen. Ich kann gut nachahmen.« Ich nahm einen Schluck Emilio's Terrace. »Aber ich trinke auch einfach gerne Wein.«
»Dann kannst du so ohne weiteres in andere Rollen schlüpfen und sie wieder ablegen wie eine Verkleidung?«
»Ich glaube ja. Du machst das auch, wenn auch ein bisschen anders. Du hast die Fähigkeit, irgendwie unsichtbar zu werden, wenn du willst. Das hab ich schon gesehen.«
»Ja, das lernst du in der Scharfschützenausbildung. Du ... saugst irgendwie deine ganze Energie in dich ein. Das hat was mit Zen zu tun. Schwer zu erklären. Ein Kumpel von mir hat mir mal erzählt, das wäre so ähnlich wie das, was die Bestie in Predator macht, oder wie ein klingonisches Kriegsschiff mit Tarn-Technologie. Ja, das trifft es ungefähr. Aber ich hätte auch nichts dagegen, wenn ich mich in den verschiedenen Milieus so mühelos bewegen könnte wie du. Trotzdem, es muss doch komisch sein, wenn man sich in ihnen bewegen kann, aber nicht richtig dazugehört, oder?«
Ich nickte. »Ja. Das ist es.«
Das Essen erwies sich als außerordentliches Vergnügen. Auch der Wein war erstklassig, und das Gefühl, mitten im Herzen der dichten Metropole um uns herum und gleichzeitig über ihr und von ihr abgehoben zu sein, war fast berauschend. Das Wetter zeigte sich für Bangkoker Verhältnisse von seiner besten Seite: kühl und relativ trocken, und durch den Smogdunst über uns lugten sogar ein paar Sterne. Wir sprachen viel über Afghanistan, den Krieg dort, in dem wir beide gemeinsam im Einsatz gewesen waren. Über die Männer, die wir dort gekannt hatten; die verrückten Dinge, die wir getan hatten; darüber, dass nach dem Abzug der sowjetischen Armee, bei deren Vertreibung wir mitgeholfen hatten, ein bewaffneter und gut ausgebildeter Kader islamischer Fanatiker die Macht im Land an sich gerissen hatte.
Wir sprachen auch über Asien. Ich war überrascht, wie viel er über die Region wusste und wie sehr er sich ihr verbunden fühlte, und seine Fragen insbesondere nach der japanischen Kultur zeugten von Intelligenz und Scharfblick. Er erzählte mir von seiner Liebe zu Thailand, wo er seit Jahren immer wieder gerne »verweilte«, wie er es ausdrückte, und bei jedem Besuch länger blieb. Ich erfuhr sogar, dass er die Hoffnung hegte, dort seinen Lebensabend zu verbringen. Dass er sich in den Staaten nicht mehr wohlfühlte.
Ich verstand seine Gefühle. Die Thai-Kultur hat etwas Offenes und Zugängliches, was auf bestimmte Sorten von farang, Ausländern, eine anziehende Wirkung hat. Die dunkle Seite des Phänomens sind Pädophile und andere abartig Veranlagte, die in das Land kommen, um ihre heimlichen Perversionen auszuleben. Dann sind da noch die in die Jahre gekommenen Typen aus dem mittleren Management, die ihren Frust über gescheiterte Ambitionen und den unnachgiebig, Tag für Tag näher rückenden Tod betäuben, indem sie sich Frauen mieten oder indem sie sich einen neokolonialen Lebensstil gönnen, den sich die Einheimischen nicht leisten können. Doch es gibt viele, die aus freundlicheren Gründen bleiben. Einige sind gewissermaßen in einem westlichen Körper gefangene Asiaten, deren wahre Natur in Thailands »fremdartigem« Klima freigesetzt wird. Einige fliehen aus einer ungesunden Affäre oder haben eine Scheidung oder einen Bankrott hinter sich oder irgendein anderes persönliches Trauma erlebt. Und einige, wie Dox und ich, sind Soldaten, die gemerkt haben, dass sie von den Dingen, die sie im Krieg getan haben, zu sehr verändert wurden, um in das Land ihrer Jugend zurückzukehren. Wer du warst und wer du geworden bist,
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