Tokio Killer 06 - Letzte Vergeltung
hinter der nichtssagenden Fassade vermuten, dass dort Nacht für Nacht ein lärmendes Gedränge aus berechnenden Prostituierten und gierigen Freiern herrschte. Zurzeit waren die Bars, die sich im Untergeschoss und auf den ersten beiden Etagen aneinanderreihten, noch geschlossen, und im Atrium war es fast komatös still. Ich nahm die Rolltreppe zu einem Internetshop im ersten Stock, den ich von früher kannte.
An einem der Terminals informierte ich mich über den Yachtclub, zuerst mit Hilfe der clubeigenen Webseite, dann mit Google Earth. Erstaunlich, was für Informationen heutzutage öffentlich zugänglich sind. Vor gar nicht so langer Zeit brauchte man eine Sondererlaubnis, um auf Keyhole-Satellitenfotos zugreifen zu können. Das ist vorbei.
Der Club hatte Anlegestellen für gut siebzig Boote in allen möglichen Größen. Von einem langen Kai, der sich entlang der Hafengebäude erstreckte, gingen im rechten Winkel fünf Piers ab. Kanezaki hatte gesagt, die Ocean Emerald sei gut zehn Meter lang. Das bedeutete, dass das Boot irgendwo an jedem der fünf Piers liegen konnte. Ich würde versuchen, die Auswahl einzugrenzen. Aber selbst wenn mir das nicht gelang, waren fünf allgemeine Möglichkeiten kein unüberwindliches Hindernis.
Der Club verfügte außerdem über drei Restaurants und eine Bar, achtundzwanzig Gästezimmer und einen Bootsverleih. Das alles bedeutete, dass die Mitglieder, so exklusiv der Club ansonsten auch sein mochte, durchaus besucherfreundlich eingestellt und an fremde Gesichter auf der Anlage gewöhnt waren.
So weit, so gut. Ich rief Boaz von einem Münztelefon aus an.
»Wo sind Sie?«, fragte ich.
»In dem Food-Court einer Einkaufsmall, Orchard Ecke Scotts.«
»Wissen Sie, wo die Orchard Towers sind?«
»Orchard Road?«
»Ja, eine halbe Meile westlich von Ihnen, direkt gegenüber vom Hilton. Wir treffen uns dort in fünf Minuten. Sind Sie mit dem Auto oder zu Fuß?«
»Zu Fuß.«
»Also dann. Bis gleich.«
Fünf Minuten würden ihm kaum genug Zeit geben, um ein Team für einen Hinterhalt zu mobilisieren, falls er das plante. Aber ich hatte trotzdem nicht vor, genau an dem Treffpunkt zu warten, den ich ihm genannt hatte.
Ich verließ das Gebäude und ging hundert Meter in östlicher Richtung, verschwand dann in eine kleine Seitenstraße. Ich stellte mich so mit dem Rücken an eine Hauswand, dass jemand, der in westlicher Richtung unterwegs war, mich nur sehen konnte, wenn er nach hinten schaute. Vier Minuten später sah ich Boaz vorbeigehen. Er trug Shorts, ein knallbuntes Hawaiihemd und Sandalen, und auf seinem Rücken einen Rucksack. Er hätte ein europäischer Tourist auf dem Weg zu irgendeinem billigen Hotel sein können.
Ich trat aus meinem Versteck, warf einen prüfenden Blick hinter mich und auf die andere Straßenseite. Ich sah keine Probleme.
»Boaz«, rief ich.
Er drehte sich um.
»Aha, ich hab mir schon gedacht, dass Sie nicht am angegebenen Treffpunkt sein würden«, sagte er.
»Kommen Sie mit. Und behalten Sie die Hände da, wo ich sie sehen kann.«
Er gehorchte. Wir bogen in die Claymore Road. Ich schaute immer wieder nach hinten, während wir gingen. Es folgte uns niemand.
Harrys Wanzendetektor vibrierte in meiner Tasche. »Haben Sie ein Handy dabei?«, fragte ich ihn.
»Klar.«
»Greifen Sie ganz langsam danach und schalten Sie es aus.«
Er zuckte die Achseln und schob eine Hand in eine der vorderen Taschen seiner Shorts. Harrys Detektor wurde still.
»Sind Sie bewaffnet?«, fragte ich.
»Nur mit was Scharfem. Nichts was peng macht.«
Ich dirigierte ihn in eine weitere Seitenstraße. »Gesicht zur Wand«, sagte ich. »Ich taste Sie jetzt ab.«
»Mir ist schleierhaft, wie wir unsere Ziele erreichen sollen, wenn Sie nicht das geringste Vertrauen haben«, sagte er mit ernster Miene.
»Boaz, vor einem Jahr hat Ihre Organisation versucht, mich umzubringen. Umdrehen.«
Er zuckte die Achseln. Während ich ihn abtastete, sagte er: »Das war situationsbedingt, wissen Sie, und ich persönlich habe das bedauert.«
Er trug ein FS HideAway an einer Kette um den Hals, der gleiche Messertyp, mit dem Delilah Dox ein Jahr zuvor bekannt gemacht hatte. Mit dem Rucksack hielt ich mich erst mal nicht auf. Wenn er da eine Waffe drin hatte, würde er nicht so rasch danach greifen können, dass es für mich gefährlich war.
»Das Messer dürfen Sie behalten«, sagte ich, als ich mich wieder aufrichtete. »Fassen Sie sich nur nicht unvermittelt an den Hals. Was ist in dem
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