Tokio Killer 06 - Letzte Vergeltung
sollte, wie ich es erklären sollte.
»Ich will nicht, dass du darin verwickelt wirst«, sagte ich. »Ich will nicht, dass du in die Situation kommst, in der ich bin, in der ich sein muss. Ich glaube … du bist das Einzige, was mich da rausholen kann.«
»John …«
»Okay? Ich habe Hilfe. Sprich mit deinen Leuten, dann verstehst du’s. Komm nicht her. Ich brauche dich danach.«
Dann legte ich auf, aus Angst davor, was ich als Nächstes sagen könnte. Ich stand lange da, die Augen geschlossen, und fragte mich, was ich da gerade zu ihr gesagt hatte und woher die Worte gekommen waren. Es passierte so viel, ich verlor wirklich den Überblick. Am liebsten hätte ich mir einen dunklen, sicheren Ort gesucht, um mich zu verkriechen und in aller Ruhe über alles nachzudenken.
Aber ich musste konzentriert bleiben. Ich musste die Sache zu Ende bringen. Ich hatte keine Wahl.
Den dreizehnstündigen Flug verbrachte ich praktisch im Koma und landete am Morgen um halb sieben Uhr Ortszeit. Ich glaubte kaum, dass Boaz und Naftali es so schnell hatten schaffen können, aber ich kaufte mir eine Prepaidkarte und versuchte trotzdem, Boaz von einem Münztelefon aus anzurufen. Keine Antwort. Ja, sie waren vermutlich noch in der Luft.
Ich nutzte die Ankunftslounge von Cathay Pacific, um zu duschen und mich umzuziehen. Kanezaki hatte mir die zweite Dragon-Skin-Weste gegeben, und die zog ich jetzt an, halb zum Schutz, halb gegen die Kälte, mit der draußen zu rechnen war. Ich verließ den Flughafen mit den üblichen Vorsichtsmaßnahmen, nahm dann den Zug zum Amsterdamer Hauptbahnhof Centraal Station.
Dort angekommen trat ich in einen regnerischen, frostigen, düsteren Morgen. Pendler schlurften mit triefenden Schirmen auf dem nassen Pflaster an mir vorbei, die Gesichter tief in Schals versteckt. Mir fiel auf, dass relativ wenig gesprochen wurde. Vielleicht lag es an der frühen Uhrzeit, vielleicht an der Kälte, aber es herrschte eine stille, ja mürrische Stimmung.
In einem Bahnhofsladen kaufte ich mir eine Mütze, einen Schal, Handschuhe, einen Schirm und einen Stadtplan. Ich brauchte eine Jacke – und fast ebenso dringend ein Messer –, aber in den Geschäften, die bereits geöffnet hatten, wurde weder das eine noch das andere angeboten. Um mich richtig auszustatten, würde ich bis zur normalen Öffnungszeit der Geschäfte warten müssen. Bis dahin musste ich wieder frieren.
Ich fuhr mit der Straßenbahn zum Leidseplein unweit vom Vondelpark, wo Boezeman wohnte. Ich wusste, dass auf dem Platz am Abend viel Trubel herrschte, aber es war noch nicht mal neun Uhr morgens, und die zahlreichen Kneipen, Restaurants und Cafés waren allesamt geschlossen. Ich blieb auf einer Brücke über einer der Grachten stehen, die die Stadt vom Hafen aus wie die konzentrischen Fäden eines Spinnennetzes durchziehen, und schaute eine Weile hinunter, betrachtete die nassen Blätter, die auf dem trüben Wasser trieben. Zwei Gänse segelten vorbei, unglaublich weiß und rein im Gegensatz zu dem dunklen Gewässer unter ihnen. Autos passierten mich, die Scheinwerfer schwach im feuchtdüsteren Wintermorgen, ihre Reifen spritzten Wasser von riesigen Pfützen auf die Bürgersteige. Radfahrer traten in dem kühlen Regen stoisch in die Pedale.
Die Vossiusstraat lag nur fünf Gehminuten von der Haltestelle entfernt. Es war eine schmale Einbahnstraße mit Kopfsteinpflaster. Ich betrat jetzt ein Terrain, in dem Hilger mir auflauern könnte, und erhöhte meine Wachsamkeit entsprechend.
Auf der linken Seite standen jahrhundertealte vier- und fünfstöckige Backsteinhäuser dicht an dicht. Keiner der Türeingänge war so tief, dass sich jemand dort hätte verstecken können. Auf der rechten Seite trennte ein gusseiserner, spitzenbewehrter Zaun die Straße vom Vondelpark. Ich behielt den Park durch den Zaun hindurch im Auge und blieb immer wieder im Schutz parkender Autos stehen, sah aber nichts Verdächtiges. Bei den wenigen Leuten, die mir entgegenkamen, konnte ich stets die Hände sehen, und sie sandten keinerlei Gefahr aus. Sie duckten sich im Regen unter ihre Schirme, ohne mich auch nur wahrzunehmen.
Ich verlangsamte meine Schritte und blieb mit dem Rücken zu einem geparkten Wagen vor Hausnummer fünfzehn stehen – eine alte Massivholztür, verziert mit Schnitzereien und in der Mitte ein Buntglasfenster. Außen neben der Tür waren weder Klingelleiste noch Briefkästen zu sehen, ebenso wenig in dem Vorraum dahinter, wie mir ein Blick durch das
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