Tokio Killer 06 - Letzte Vergeltung
gleichzeitig auch ein Coffeeshop war. Es hieß Get Down To It und lag in einer Seitenstraße vom Leidseplein. Ich stieg die Treppe hinunter, um mir einen Computerterminal zu suchen und im Bulletin Board nachzusehen, was Kanezaki für mich hatte. Auf halbem Weg hüllte mich der schwere, berauschende Geruch von Cannabis ein. Zum zweiten Mal in kaum mehr als einer Woche war ich wieder in Saigon, diesmal als junger Mann, fast noch ein Teenager, hatte Urlaub und rauchte den Thai Stick, den irgendein unternehmungslustiger Etappenhase auf einem Militärflug aus Bangkok reingeschmuggelt hatte. Der Eismann atmete ihn ein, und schlagartig war alles wieder da: die Erinnerung daran, wie es war, ein Teenager mit besonderen Fähigkeiten zu sein und mit der Erlaubnis, sie auch anzuwenden – zehntausend Meilen weit weg von zu Hause, in dem Wissen, dass vor uns noch niemand hier gewesen war, wie Neil Armstrong auf dem Mond, nur noch besser, voller Hormone und Adrenalin, Erregung und Furcht, dem neugierigen Verstand eines Jugendlichen und den tödlichen Instinkten eines Raubtiers. Wir wussten, wir waren etwas Besonderes, gesalbt für unsere Rolle, getauft durch unsere Erfahrung, unsere Kindheit hatten wir abgestreift wie eine leere Schlangenhaut, die für uns jetzt verloren und nutzlos geworden war. Alles andere würde später kommen – das Entsetzen, der Preis dafür, die Reue. Aber auf Fronturlaub in Saigon, ganz hinten in einer dunklen Dong-Khoi-Bar, berauscht von den Thai Sticks und unserem göttergleichen Status, hatten wir keinen Schimmer, was wir verpfändeten oder was wir dafür würden bezahlen müssen.
Der Coffeeshop war ein gedämpft beleuchteter Raum mit einer niedrigen Balkendecke und roten Fliesen auf dem Boden, die Wände dunkel vom Qualm vieler Jahre. Ich sah einen Flipperautomaten, Billardtische, eine dunkle Theke mit ein paar schwarzen Barhockern davor. In einer Ecke standen Polsterstühle, auf denen einige junge Leute saßen, konzentriert rauchend und ins Gespräch vertieft; in der anderen drei Internetterminals, alle frei. Im Hintergrund lief leise Musik. Ich setzte mich an eines der Terminals und öffnete das Kanezaki-Bulletin-Board. Wie versprochen hatte er mir eine komplette Akte über Boezeman geschickt, einschließlich Fotos. Ich notierte mir, was ich brauchte, und prägte mir den Rest ein. Dann löschte ich den Browser und nahm, ohne richtig nachzudenken, an der Bar Platz. An der Theke klebte ein Schild:
SONDERANGEBOT: WEISSE WITWE UND SUPER-PALM-POWER-HASCH, 24 EURO. DUTCH, 12 EURO. THAI, 3 GRAMM, 12 EURO.
Thai, ha. Das Zeug gab’s immer noch.
Ich sah auf die Uhr. Noch knapp fünf Stunden, bis ich Boaz anrufen musste.
Der Mann hinter der Theke, ein großer Typ mit schütterem braunem Haar, sah mich an. »Was darf’s sein?«
Scheiß drauf. »Thai«, sagte ich. »Und Zigarettenpapier.«
Ich drehte mir einen Joint. Nur ein bisschen, dachte ich. Nur mal sehen, was das für ein Gefühl ist, nach so langer Zeit.
Ich nahm einen ganz leichten Zug und musste trotzdem husten, und der Thekenmann lächelte. Bestimmt war ich nicht der erste Gast, den er husten sah. Er brachte mir ein Glas Wasser und ging wieder.
Dem Eismann gefiel es, das merkte ich. Ich gönnte ihm noch einen kleinen Zug, der diesmal leichter runterging, und dann einen dritten.
Was zum Teufel machst du denn?, dachte ich. Ich blickte auf den Joint und drückte ihn aus. Ich war erschöpft, ich war unvorsichtig geworden, aber verdammt, ich steckte mitten in einer Operation. Wollte ich mich umbringen lassen?
Trotzdem erstaunlich, wie stark der Geruch und jetzt auch noch der Geschmack mit Saigon verbunden war. Ich hatte davor oder danach niemals Dope geraucht. Das war für mich eine reine Vietnam-Sache.
Wird schon nicht so schlimm sein, sagte ich mir. Waren ja nur drei leichte Züge. Was soll’s …
Ich spürte, wie meine Wahrnehmung an den äußeren Rändern unscharf wurde. Eigentlich ganz angenehm. Es erinnerte mich an eine Zeit, die ich vermisst hatte, ohne es zu merken. Und es machte mir klar, wie angespannt ich gewesen war, seit ich in Paris Hilgers Nachricht erhalten hatte. Der Sex mit Delilah und der viele Alkohol an dem Abend … als hätte ich versucht, aus mir selbst herauszutreten oder irgendwas in mir zu betäuben.
Manchmal tut Betäubung gut. Denn was du über dich selbst erfährst, wenn die Angst dich schließlich einholt, ist nicht schön. Du begreifst, dass die Person, für die du dich gehalten hast, dein
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