Tokio Killer 06 - Letzte Vergeltung
eine Erklärung parat haben, sonst reagierst du wahrscheinlich nur mit dem altehrwürdigen Selbstmord auf Raten, nämlich mit »Äh, äh, äh« oder vielleicht einer Variante von »Es ist nicht so, wie es aussieht« oder »Ich kann das erklären«, was alles unweigerlich als uneingeschränktes Schuldeingeständnis verstanden wird.
Das Skript zu entwerfen ist einfach, die erfolgreiche Ausführung dagegen schwierig. Sie verlangt Phantasie, schauspielerisches Talent und Erfahrung. Ab einem bestimmten Punkt des Einsatzes geht mir meine Rolle in Fleisch und Blut über. Ich stellte mir vor, wer ich war: Taro Yamada, frisch geschieden, auf Urlaub an der amerikanischen Westküste, um den Trennungsschmerz zu lindern. Die Kamera, die ich dabeihatte, würde die Geschichte untermauern, und ich machte unterwegs extra ein paar Touristenfotos. Ich hatte diese Rolle schon öfter benutzt, und ich kannte alle Einzelheiten in- und auswendig, sogar den Namen meiner geschiedenen Frau und unserer erwachsenen Tochter, die Adresse des Apartmenthauses in Tokio, wo ich wohnte, das Büro in dem großen Elektronikkonzern, wo ich leitender Angestellter war. Nichts davon war abgesichert, aber das war auch nicht erforderlich. Die in Amerika verbreitete Vorstellung vom heutigen Japan ist die einer friedlichen Nation mit Menschen, die verrückt auf Luxusmarken sind, pausenlos Fotos schießen, höflich, wohlhabend und respektvoll sind und Amerikas Krieg gegen den Terror unterstützen. Nichts an meinem Gesicht oder Verhalten würde Besorgnis erregen. Heutzutage waren es die dunklen, bärtigen Abdullah-Typen, denen die ganze Aufmerksamkeit galt, ungeachtet aller Anti-Profiling-Kampagnen. Und selbst wenn jemand auf die Idee käme, die eine oder andere Einzelheit meiner Geschichte zu überprüfen – so undurchschaubar wie Land und Sprache sind, muss einer schon besonders ehrgeizig und geschickt vorgehen, um nicht irgendwann frustriert aufzugeben.
Wenn genug Zeit gewesen wäre, hätte ich den Pacific Coast Highway genommen, was ich immer schon mal wollte. Aber die Zeit drängte, daher fiel die Fahrt ziemlich monoton aus. Ich kam an weiten Äckern vorbei, verbrannten Wiesen; einem meilenlangen Streifen nackter Erde, die von den Hufen tausender Kühe zu Schlamm getrampelt worden war.
Überwältigend fand ich den San-Luis-Stausee, westlich vom I-5, entlang eines kurvenreichen Abschnitts der Route 152. Inmitten der monotonen Hügellandschaft mit knorrigen, düsteren Bäumen überraschte mich die glitzernde, kobaltblaue Fläche, die sich plötzlich vor mir auftat. Ich fuhr meilenweit daran entlang, betrachtete den See, der sich zu meiner Linken erstreckte, und war fasziniert von diesem unvermuteten Binnenmeer. Als ich das Ende erreichte und die 152 in einem langsamen Bogen wegschwenkte, fuhr ich rechts ran und stieg aus.
Die Luft roch gut, feucht vom Stausee, kühl und satt. Ich ging die gut hundert Meter über knirschenden Kies hinunter zum Wasser. Ein paar Autos sausten vorbei, aber ansonsten war es völlig still.
Trotz der Abendsonne war es hier unten kalt, und ein scharfer Wind pfiff in den Felsen. Die Wände waren vernarbt mit horizontalen Furchen, Graffiti der Natur, eingeritzt über Jahrtausende durch den endlosen Druck von Wasser und Wind. Ich stand da und schaute, jetzt verborgen vor der Straße, vor allem, was hinter mir war.
»Ich weiß nicht, wer er ist«, sagte ich laut, nach einigen Minuten. »Aber entweder er oder mein Freund. Ich habe keine Wahl. Das passt dir nicht? Na, was würdest du denn machen? Dox stattdessen sterben lassen?«
Ich wartete. Aber natürlich war da nichts. Bloß das funkelnde Sonnenlicht und der beißende Wind.
»Warum frag ich überhaupt?«, sagte ich kopfschüttelnd. »Du bist nicht da. Du warst nie da.«
Ich drehte mich um und ging zurück zur Straße.
Kurz vor vier kam ich in Palo Alto an. Als Erstes hielt ich an einem Militärladen im nahe gelegenen Mountain View, wo ich einen Daunenparka mit Kapuze und ein Paar Lederhandschuhe kaufte. Es waren draußen knapp dreizehn Grad, laut Digitalanzeige im Mercedes, daher war der Parka ein wenig übertrieben. Aber voluminös, wie er war, würde er meine Statur verschleiern, und die Kapuze war eine gute Tarnung für mein Gesicht. Die Handschuhe würde ich später brauchen.
Als Nächstes fuhr ich zu Jannicks Haus. Die Christopher Lane war ein langer, schmaler Anstieg und endete in einer Sackgasse, die von großen neuen Villen mit ebenso großen Gärten und
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